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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Autoren: Julie Leuze
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allein? Meine Gedanken fliegen zu Anne. Zu dem Glück in ihren Augen, als ich ihr beim Abschied versprochen habe, wiederzukommen. Ich denke an die Liebe, die sie für meine Mutter hegt – Bärbel, die Fremde, die trotz allem nie aufgehört hat, Annes Kind zu sein. Ich denke an die Bilder, die Anne erschafft, seit sie ihrer Synästhesie nicht mehr davonläuft, an meine farbigen Fotos, an Mattis’ Liebe und Lenas Freundschaft. Daran, dass sich nichts so gefährlich anfühlt wie der Feind, den man nicht kennt.
    Der Feind, der manchmal gar keiner ist – wie Annes und meine Synästhesie.
    Nein. Für meine Eltern und mich darf es kein Zurück geben. Ich will nicht mehr im Schatten unserer Ängste leben! Ich will in die Sonne. Sie ist schon da, war es immer. Wir müssen nur endlich, endlich die Fensterläden öffnen, um sie hereinzulassen.
    Und der beste Zeitpunkt, damit anzufangen, ist JETZT .
    Es wird ein langer, anstrengender Abend. Als ich weit nach Mitternacht in mein Bett falle, habe ich das Gefühl, für die nächsten zehn Jahre genug geredet zu haben.
    Ich habe meinen Eltern erzählt, was ich am Wochenende getan, wonach ich Anne gefragt, welche Antworten ich von ihr bekommen habe. Dass meine Großmutter ihrer Schuld ins Auge sieht und was sie damals krank gemacht hat. Dass auch ich früher oder später krank geworden wäre, wenn ich meine Farben dauerhaft hätte verleugnen müssen. Dass Annes Geschichte mir geholfen hat klarzusehen, und dass ich unbedingt mit meiner Großmutter in Kontakt bleiben will.
    Sogar, dass ich besoffen war, wissen meine Eltern nun. Und dass ganz Walding mich mittlerweile im Internet gesehen haben dürfte.
    Mama und Papa haben mich nicht umarmt, als ich endlich todmüde vom Tisch aufgestanden bin. Aber sie haben mir eine Gute Nacht gewünscht … Und das werte ich als gutes Zeichen. Hey, immerhin haben sie mir zugehört! Und Mama ist nicht ausgeflippt. Und Papa hat von selbst – wenn auch zähneknirschend – angekündigt, dass er sich um die sofortige Löschung des YouTube-Videos kümmern wird. Es gab keinen Hausarrest, keine Drohungen und kein einziges vorwurfsvolles »Warum tust du uns das an?«.
    Vielleicht, denke ich mit vorsichtigem Optimismus und kuschele mich unter meine Decke, ist der Abend ja doch ganz gut gelaufen. Die Fensterläden mögen noch nicht sperrangelweit offenstehen. Aber die ersten Sonnenstrahlen haben es definitiv in unsere Familie geschafft.
    Noch während mein Mund sich zu einem Lächeln verzieht, schlafe ich ein.

Sechsunddreißig
    Am nächsten Tag bin ich so müde, wie man das nach vier Stunden Schlaf erwarten darf. Trotzdem bin ich zufrieden – ein ungewohntes Gefühl, in einem warmen Rostbraun. Ich sitze im Kunstunterricht, arbeite mehr oder weniger engagiert an einer Bleistiftzeichnung und lasse meine Gedanken schweifen.
    Die Bilanz der letzten Tage kann sich sehen lassen: Ich habe bei allen, die ich liebe, reinen Tisch gemacht, und keiner hat mich wegen meiner Synästhesie fallen lassen. Zugegeben, ich weiß noch nicht, wie all die anderen reagieren werden, meine Mitschüler, die Lehrer, die Bekannten meiner Familie. Aber selbst wenn einige von ihnen mich schief anschauen werden – so what! Wer mich nicht mag, der wird immer was finden, um mich als blöd abzustempeln, denke ich und drehe meinen Bleistift in den Fingern. Ob das nun meine inneren Farben sind, meine starken Augenbrauen oder die Form meiner Schuhe.
    »Ich muss dich gar nicht mehr ermahnen!«, flüstert Lena neben mir freudig. »Super!«
    Verwirrt runzele ich die Stirn. Ich bin heute zwar müde, aber so müde nun auch wieder nicht. »Könntest du dich ein bisschen genauer ausdrücken?«
    »Du kaust nicht mehr an deinen Bleistiften rum! Ich hab’s geschafft, es dir abzugewöhnen.« Lena ballt in einer triumphierenden Geste die Faust. »Yeah!«
    Ich muss lachen. Lenas Ermahnungen waren zwar lieb gemeint, aber völlig nutzlos. Ich fühle mich schlichtweg weniger angespannt, jetzt, wo ich mich nicht mehr verstellen muss.
    Trotzdem sage ich gehorsam: »Na dann, herzlichen Dank für deine Hilfe. Und wie kann ich mich revanchieren?«
    »Zeig mir die Fotos, die du mit Mattis verändert hast«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
    »Du meinst die mit den Farben und den Gefühlen? Die sehen aber ziemlich abgefahren aus, ich warne dich. Andy Warhol ist nix dagegen.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Im Ernst, interessiert dich das wirklich?«
    »Klar interessiert mich das! Mensch, ich will doch
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