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Der Duft

Titel: Der Duft
Autoren: Aufbau
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und ich?«
    |392| »Willst du auch mit mir zusammen sein? Oder war das vorhin nur …«
    Sie umarmte ihn und gab ihm einen langen Kuss. »Nein, das war es nicht. Ich bin nicht der Typ für One-Night-Stands.«
    »Hab ich mir schon gedacht.«
    Sie gingen schweigend weiter, berauscht von der klaren Luft, dem sanften Glanz der tief stehenden Sonne und ihrem eigenen
     Glück.
    Plötzlich stellten sich Maries Nackenhaare auf, und sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich umzusehen. Sie sind hinter
     dir her, flüsterte die Stimme.
    Oh nein, nicht schon wieder. Sie schüttelte den Kopf.
    »Was hast du?«, fragte Rafael. Er sah sie besorgt an.
    »Es ist nichts«, flüsterte Marie. Sie kämpfte mit den Tränen. Eine Zeitlang hatte sie wirklich geglaubt, ihre Paranoia überwunden
     zu haben. Doch jetzt war die Stimme ihres Unterbewusstseins plötzlich wieder da und vergiftete erneut ihr Leben. »Ich … ich
     glaube, ich bin einfach noch nicht ganz über die ganze Sache weg.«
    Rafael nickte. »Ich eigentlich auch nicht.« Er lächelte. »Aber ich bin froh, dass wir uns haben.«
    Sie schmiegte sich an ihn. »Ja, ich auch.« Plötzlich wollte sie unbedingt wieder zurück in seine Wohnung und noch einmal seinen
     Körper spüren.
    »Wollen wir umkehren?«, fragte Rafael im selben Moment, als empfinde er dasselbe übermächtige Verlangen.
    »Gern. Vielleicht können wir …«
    In diesem Moment hörte Marie ein seltsames Geräusch, wie das Zerplatzen einer reifen Frucht. Rafael stolperte nach vorn, als
     habe er einen Schlag in den Rücken bekommen. Dann sank er in die Knie. Er sah sie mit großen fragenden Augen an, während sich
     sein graues Sweatshirt unter der geöffneten Lederjacke hellrot färbte.

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    |393| 49.
    Marie tat das einzig Richtige – etwas, das sie sich später dennoch nicht verzieh: Sie sah sich nicht nach dem Heckenschützen
     um, beugte sich nicht über Rafael, versuchte nicht, ihn anzusprechen oder ihm zu helfen. Stattdessen erfüllte sie nur ein
     Gedanke: Die nächste Kugel würde sie treffen.
    Sie hatte höchstens eine Sekunde. Sie machte einen Satz zur Seite, in ein Rhododendron-Gebüsch am Wegesrand. Die Kugel pfiff
     fast lautlos hinter ihr vorbei und blieb mit einem dumpfen Pock in einem Buchenstamm stecken.
    Marie rannte durch den Park. Rannte, wie sie noch nie gerannt war. Die aufgeregten Rufe auf dem Weg nahm sie kaum wahr. Die
     Stimme in ihrem Kopf trieb sie unbarmherzig voran. Sie lief einen Zickzackkurs quer durch Gebüsch und kleine Baumgruppen.
     Sie wusste, der Killer würde nicht aufgeben, bis er auch sie ausgeschaltet hatte. Die Stimme hatte die ganze Zeit recht gehabt.
     Nur war sie zu dumm gewesen, auf sie zu hören.
    Marie erreichte das Ende des Parks. Ohne sich um die verwunderten Blicke der Menschen an einer Bushaltestelle zu kümmern,
     rannte sie weiter. Sie hatte keine Ahnung, wie dicht der Killer ihr auf den Fersen war, doch sie wagte nicht, sich umzudrehen.
     Wahllos bog sie in Quer- und Seitenstraßen ein. Ihre Lungen brannten, doch der Schmerz war ihr beinahe willkommen. Er lenkte
     sie für den Moment ab von dem anderen, tieferen Schmerz, der in ihrem Inneren lauerte. Sie entdeckte einen U-Bahn-Zugang,
     rannte die Stufen hinab. Der Bahnsteig war fast leer. Eine Digitalanzeige gab die Wartezeit bis zum nächsten Zug an: drei
     Minuten.
    |394| Schwer atmend ging Marie ans andere Ende der Plattform und verbarg sich im Sichtschutz eines Pfeilers. Doch es kamen nur eine
     alte Frau mit einem Gehstock und eine Mutter mit zwei kleinen Kindern die Rolltreppe hinab. Der Zug fuhr ein. Marie sprang
     in einen der Wagen und blieb am Eingang stehen, bereit, sofort wieder aus dem Waggon zu fliehen, falls sich jemand zeigte,
     der es auf sie abgesehen haben könnte.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie hatte es offenbar geschafft, ihren Verfolger abzuschütteln. Vielleicht hatte er sich
     auch gar nicht die Mühe gemacht, ihr hinterher zu laufen. Wahrscheinlich vertraute er darauf, dass er sie schon noch erwischen
     würde. Irgendwann.
    Die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschehen war, drang langsam in ihr Bewusstsein. Sie wollte weinen, wollte ihre Wut und
     Verzweiflung hinausschreien, doch stattdessen stand sie stumm da, die Lippen aufeinandergepresst, und zitterte am ganzen Körper.
    Es war ihre Schuld. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie verfolgt wurden. Ihre innere Stimme hatte es ihr klar genug
     gesagt. Auf eine seltsame Weise hatte sie die Gefahr ganz deutlich
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