Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Orakel von Theran

Das Orakel von Theran

Titel: Das Orakel von Theran
Autoren: Ernst Vlcek
Vom Netzwerk:
zu umgehen, stieß dabei aber gegen eine Wand.
    »Nur dieser Weg führt zur Orakelstätte«, sagte Gorel, wie um ihm dem Mut am Weitergehen zu nehmen.
    Aber Mythor straffte sich und schritt weiter. Der Vorhang aus klebrigen Fäden wurde dichter. Doch nachdem sich daran gewöhnt hatte, verursachte ihm die Berührung kein Unbehagen mehr.
    Von der anderen Seite drangen Lichter durch den Vorhang und spiegelten sich in den Fäden, die sich mit jedem Schritt, den Mythor tat, wieder lichteten. Und dann hatte auch dieses letzte Hindernis überwunden und erreichte die Orakelstätte.
    Der sich ihm bietende Anblick ließ ihm den Atem stocken. Er glaubte, durch die im Sinnesrausch erlebten Trugbilder vorbereitet zu sein. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Das Orakel war kein zuckender Fleischberg, aus dem sich Köpfe auf schlangengleichen Hälsen reckten.
      Das Orakel war kein so furchteinflößendes Ungeheuer, es war überhaupt kein einzelnes Wesen. Es hatte, wenn man es wertfrei betrachtete, überhaupt nichts Göttliches, nichts Erhabenes an sich. Es war nicht fremdartig oder sonderlich ungewöhnlich, und sein Anblick beeindruckte nicht.
    Mythor sah in einer Nische zwölf solche haarlose Gnomen, wie ihn einer in Gorels Begleitung in seiner Kammer heimgesucht hatte. Damals hatte Mythor Entsetzen und Abscheu verspürt. Doch hier, an der Orakelstätte, waren ihm solche Gefühle fremd.
    Die zwölf Gnomen krabbelten wie Neugeborene umher. Dazwischen tauchten gelegentlich Orakeldiener auf, die sich fürsorglich um sie bemühten. Sie säugten sie aus Darmschläuchen, oder wuschen und salbten sie.
    Wenn ein Gnom zu nahe an den Rand des Podests geriet und hinunterzufallen drohte, wurde er von einem Orakeldiener zurückgeholt. Es kam auch vor, dass zwei oder mehrere der Gnomen sich mit Armen und Beinen verstrickten oder einfach miteinander balgten. Auch dann war sofort ein Orakeldiener zur Stelle und löste sie voneinander.
    Mythor konnte es nicht fassen. Diese zwölf hilflosen und unfertigen Geschöpfe sollten das Orakel von Theran sein, das im weiteren Sinne die Geschicke der Lichtwelt lenkte?
    Sie boten ein so rührendes Bild, dass Mythor sich nicht vorstellen konnte, warum er vor einem dieser Gnomen Ekel und Furcht empfunden hatte.
    Warum hatte ihm Gorel in dem Traum dann das Bild eines zuckenden Fleischbergs mit Schlangenhälsen vorgegaukelt? Offenbar nur, um ihn abzuschrecken.
    Jetzt entdeckte Mythor, dass sich zwischen den Gnomen auch kleine, buckelige Pelztiere mit mehreren Beinpaaren tummelten. Er erinnerte sich an das Standbild eines solchen Tieres an der Straße der Elemente. Maluk hatte es einen Siebenläufer genannt und als Glücksbringer bezeichnet. Offenbar waren diese Tiere auch Spielgefährten für die Orakel-Gnomen. Oder kam ihnen noch eine zusätzliche Bedeutung zu?
    Mythor riss sich von dem Bild los und blickte sich um. Die Orakelstätte war eine weiträumige runde Halle, die vom Leuchten unzähliger Skaraben erhellt wurde. Hoch oben wurde der Raum von einer gewölbten Decke abgeschlossen. Entlang den Wänden führten gemauerte Rundgänge. Darin gab es Gucklöcher.
    Mythor hatte das unbestimmte Gefühl, von dort beobachtet zu werden. Gorel, der seinen prüfenden Blick bemerkte, raunte ihm zu: »Dort oben verbirgt sich Lassat. Und ich weiß, dass das Böse bei ihm ist. Die Trolle spürten es, und sie sind darob ganz verwirrt. Die Ausstrahlung des Bösen verursacht ihnen geradezu Schmerzen. Deine Fragen, Mythor, werden den Trollen noch mehr weh tun. Denn sie werden dir antworten müssen, obwohl sie wissen, dass das Böse mithört.«
    »Du willst mich nur schrecken, Gorel«, sagte Mythor überzeugt. »Sage mir lieber, was ich zu tun habe, um das Orakel zu befragen.«
    »Tritt näher, bis du die Aufmerksamkeit der Trolle auf dich gelenkt hast«, sagte Gorel. »Und dann frage, wenn du sie quälen und dich und die Welt ins Unglück stürzen willst.«
    Mythor ballte die Hände vor Wut. Er hatte endgültig genug von dem Geschwätz des greisen Orakeldieners. Er setzte sich in Bewegung und näherte sich langsam dem Podest, auf dem die kindlichen Trolle tollten.
    Als Mythor nur noch etwa sieben Schritte von ihnen entfernt war, hielten sie in ihrem Spiel inne. Die Trolle hörten auf, miteinander zu balgen, und hoben ihre haarlosen Köpfe. Sie starrten aus blicklosen Augen in Mythors Richtung, wie witternde Tiere, die einen fremden Geruch auffingen.
    Sie sind blind! erkannte Mythor. Blinde Trolle mit seherischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher