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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Autoren: Linda Holeman
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zur Hälfte geschoren ist, hat noch etwas Fleisch auf den Rippen. Und er hat noch keine Frostbeulen an den Wangen. Grischa betrachtet dessen Stiefel, wundert sich, dass die Wachen sie ihm nicht abgenommen haben. Aber das werden sie über kurz oder lang. Er würde auch gern wieder weiches Leder an den Füßen spüren, statt der mit Zeitungspapier gefütterten Filzstiefel, die die Gefangenen tragen müssen. Abwesend fragt er sich, was dieser Mann, Bogdan, wohl getan hat, dass es ihn hierher, in dieses sibirische Arbeitslager, verschlagen hat. Doch er weiß, es ist höchst unwahrscheinlich, dass er es herausfinden wird.
    Die Männer reden nicht über ihre Verbrechen oder darüber, warum man glaubte, sie zu dieser Strafe verurteilen zu müssen. Es führt zu nichts Gutem, wenn man in der katorga zu viel redet. Einige der Männer, mit denen Grischa tagtäglich zusammenarbeitet, sind Mörder oder Diebe. Andere wiederum haben einfach nur allzu offen ihre Meinung zu den Herrschaftsverhältnissen im Land gesagt und sich gegen die Willkürherrschaft des Zaren gewandt.
    » Ich will hier raus « , sagt Grischa schließlich zu Bogdan. » Das ist mein Plan für das neue Jahr. «
    Ein kleiner, schrumpeliger Mann, der schwer hinkt, kommt auf dem Weg zum Abortkübel an der unteren Pritsche vorbei, auf der Grischa und Bogdan sitzen.
    » Du bist ein Träumer, Grigori Sergejewitsch. Du weißt genau, dass du das nicht überleben wirst. «
    » Doch, das werde ich. « Grischas Stimme klingt ruhig und bestimmt.
    Der ältere Mann schüttelt den Kopf und lässt ein keuchendes Lachen vernehmen. Bogdan trinkt seine Tasse aus. Seine riesigen, vernarbten Hände umschließen das Gefäß fest.
    » Weil Neujahr ist, Naryschkin, will ich dir deine Träume lassen. Ja, ja, du wirst es bestimmt schaffen, aus dem Lager zu entkommen. Dieser arme alte Tropf « , sagt Bogdan und sieht dem alten verhutzelten Männchen nach, » hat halt aufgegeben. Er weiß, dass er keine Chance hat. Aber nehmen wir an, dir gelingt die Flucht. Was dann? Wie willst du allein und mittellos Sibirien durchqueren? Und wo willst du hin? «
    Grischa stellt seine Tasse auf den Boden und langt unter seinen ausgefransten Mantel, der von einem Seil zusammengehalten wird, und unter die vielen Schichten x-mal ausgebesserter Tuniken, die er darunter trägt. Er fördert einen Kanten Schwarzbrot zutage und bricht ihn mühsam entzwei. Er reicht die eine Hälfte seinem neuen Freund. Der Mann greift zu, bedankt sich mit einem Nicken und steckt sich das Stück vorsichtig in die rechte Mundhälfte, wo ihm noch sechs Zähne geblieben sind – drei oben und drei unten. Die behutsame Art, wie Bogdan sein Brot kaut, und seine undeutliche Aussprache lassen Grischa darauf schließen, dass er die übrigen Zähne erst kürzlich verloren hat.
    » Erzähl weiter, Naryschkin « , sagt Bogdan. » In der Neujahrsnacht kann man die Zukunft voraussagen. Also sag mir, was du für dich voraussiehst, mein Freund. «
    » Ich werde von hier entkommen « , antwortet Grischa. Er ergreift erneut die Tasse, die er auf dem Boden abgestellt hat. » Ich habe Sibirien schon mal durchquert, und damals war ich fast noch ein Junge. Wenn ich es einmal geschafft habe, wird es mir auch ein zweites Mal gelingen. «
    » Na gut « , sagt Bogdan, der noch immer bedächtig auf seinem Brot kaut. » Und wohin willst du dann? Hast du eine Familie, die auf dich wartet? Ein Zuhause? «
    Grischa denkt an das Haus mit den blauen Fensterläden. » Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, zu wem ich gehen werde. Wen ich aufsuchen werde, und ich hoffe, dass sie auf mich wartet. «
    Das Gesicht des anderen nimmt einen milderen Ausdruck an. » Es ist immer gut zu hoffen, dass jemand auf einen wartet « , sagt er leise. » An einem Ort wie diesem ist Hoffnung lebensnotwendig. « Seine Tasse ist leer, aber er erhebt sie dennoch.
    » Auf die Hoffnung « , murmelt Grischa. Er bekreuzigt sich, dann prostet er Bogdan zu. » Auf die Hoffnung « , sagt er erneut. Er ruft sich Antoninas Gesicht vor sein geistiges Auge und trinkt.

DANKSAGUNG
    A ls Kind hörte ich regelmäßig bruchstückhafte Erzählungen über das Leben in Russland im frühen zwanzigsten Jahrhundert; ich lauschte, wenn mein Vater und meine Großmutter bei Tisch Russisch sprachen, und meine Großmutter flüsterte mir abends zum Einschlafen Verse in ihrer Muttersprache ins Ohr. Wie ein Papagei wiederholte ich ihre Worte, jedoch ohne sie zu verstehen, dabei liebte ich diese vage, heimliche
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