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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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entscheiden, was echt war?
    Ihr rotes Buch lag unter dem Kissen, abgewetzt und eselsohrig, die Seiten fleckig und gelb. Der Einband war zerkratzt und zum Teil angesengt. Galatea hatte ihr fieberhaftes Kritzeln erwähnt. Vielleicht war das Niedergeschriebene ja hilfreich.
    Der erste Satz war noch klar: Eine Frau unter dem Eis. Der nächste Satz ergab keinen Sinn. Der danach auch nicht. Sie blätterte die Seiten durch, sie hatte so viel geschrieben, aber die langen Wortketten waren unverständlich. Nichts als Kauderwelsch. Verzweifelt ließ Mercy das Buch wieder aufs Bett fallen. Kein Wunder, dass Trajan es ihr nicht weggenommen hatte. Der Besitz des kostbaren roten Buches, das so offensichtlich voller Unsinn war, zeigte nur zu deutlich, wie verrückt sie war.
    Mercy wanderte im Zimmer herum. Der Schrank war leer. Auf dem Frisiertisch lag nichts, bis auf eine Haarbürste. Eine einzige Feder und eine Flasche Tinte standen auf dem Schreibtisch.
    Zwei Jahre waren also laut Trajan seit Theklas Tod vergangen – und kein Jahrhundert. Eingesperrt in diesem Zimmer, waren ihr zwei Jahre vielleicht vorgekommen wie ein Jahrhundert. Wie lange würde sie noch hierbleiben müssen? Ihr Kopf arbeitete schnell. Sie könnte simulieren und vorgeben, sie wäre geheilt. Dann würde Trajan sie mitnehmen.
    Die Zeit zog sich dahin. Niemand kam. Erstaunlich schnell schien sie sich an die neue Situation anzupassen. Ein Zauberbann legte sich auf sie, wie der hypnotische Halbschlaf in dem anderen Century der sich wiederholenden Tage. Sie fand es schwierig, an Flucht zu denken, stattdessen machte sie sich Gedanken über das neue Kleid. Sie wünschte, sie hätte die Grütze nicht verschwendet, denn sie war hungrig. Seltsamerweise veränderte sich das Zwielicht nicht, es wurde weder heller Tag noch brach die Dunkelheit herein. Klein beigeben wäre leicht. Leben war schwierig und es tat weh. Schlafen war einfacher und nicht so schmerzhaft.
    Nein. Nein! Mercy schüttelte den Kopf. Sie wollte sich nicht geschlagen geben. Sie war nicht verrückt. Und sie war auch nicht dasselbe kleine Mädchen, das Trajan vor so vielen Jahren verzaubert hatte. Sie hatte so viel erreicht und so viel gesehen. Sie war bedeutend stärker, als es ihm bewusst war, und sie wollte frei sein. Draußen schien die Sonne und die Leute hatten Freunde und feierten Feste und lauschten den Vögeln und sahen die Blumen wachsen. Sie verliebten sich und stritten miteinander und wussten nie, was der nächste Tag bringen würde. Mercy ging im Zimmer auf und ab und rieb die Hände aneinander. Sie war beunruhigt. Jetzt konnte sie doch nicht aufgeben. Das ging nicht. Was, wenn das hier nur eine weitere List Trajans war, die sie davon abhalten sollte, seinen Bann zu zerstören – und die Wahrheit herauszufinden?
    Ja, es war ein guter Trick. Aber sie würde nicht in Trajans letzte Falle tappen. Sie würde den Weg hier hinaus finden. Es musste irgendwo einen Hinweis geben.
    Es gab noch einen Ort, an dem sie nachsehen konnte. Sie kroch unter das Bett, steckte den kleinen Finger in ein Loch in der Diele und hob ein Stück Holz hoch, das einen Hohlraum darunter freigab. Sie langte mit der Hand hinein, tastete herum und fand ein Bündel Papier. Ihre Finger zitterten. Mercy rutschte unter dem Bett hervor. Sie faltete das Papier auseinander und ein halbes Dutzend Federzeichnungen fielen auf das Laken. Ein Bild von Claudius. Und eins von Trajan und Thekla. Marietta in einem weißen Kleid. Mercy selbst und Charity. Noch eins vom Haus, mit einem davongaloppierenden Reiter.
    Beinahe hätte Mercy vor Erleichterung geweint. Sie legte den Kopf zurück und schickte ein Dankgebet an Charity. Dann sah sie sich den Brief an.
     
    Liebe Mercy,
    ich weiß nicht, wo Du bist oder was mit Dir passiert ist. Vater tobt durchs Haus wie ein Wahnsinniger, den der Schmerz zerreißt. Galatea versteckt sich in ihrem Zimmer. Mich beachtet niemand – außer Aurelia. Nun gut, ich war auf dem Dachboden und habe die Gemälde dort gefunden, wo Du es gesagt hast, und ich habe sechs Bilder gemalt. Hoffentlich sind sie so, wie Du sie haben wolltest. Ich weiß nicht, wie sie Dich erreichen sollen, deshalb lege ich sie in Dein geheimes Versteck. Wusstest Du, dass ich es entdeckt habe? Ist doch gut, dass Deine Schwester so neugierig ist …
    Ich schicke Dir alles Liebe, tapferer Mädchen. Hoffentlich findest Du, was Du suchst.
    Charity XX
     
    Mercy drückte den Brief an ihr Herz. Tränen stiegen ihr in die Augen. Gut gemacht,
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