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DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

Titel: DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Salchow
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sich Wolken vor die Sonne. Der Baum wirft einen scheinbar endlosen Schatten über die Decke. Ein kurzer Blick in den Himmel. Als er wieder zu ihr herabschauen, ihren Blick suchen will, ist sie verschwunden. Die Flasche Rotwein liegt ausgelaufen neben der Decke im Schlamm. Beißende Kälte. Und ein Sturm, der die Plastikbecher über den durchnässten Rasen wirft.
    Er setzt sich aufrecht, als ein kleines Blatt Papier, durch den Wind getragen, an seinem Arm hängen bleibt. Mit zitternden Händen streicht er es glatt, um gleich darauf zu erkennen, dass es ein Kalenderblatt ist.
    Der 13. September 2010.

    Wie von einer Ohrfeige wachgerüttelt, riss er sich selbst aus dem Schlaf. Die Bettdecke lag neben ihm, das Laken zerwühlt zu seinen Füßen. Es war nicht das erste Mal, dass der Traum ihn heimsuchte, und dennoch schien er ihm intensiver, realistischer als all die Male zuvor. Ob es am Haus lag? Daran, dass er ihre Anwesenheit hier so viel deutlicher spürte?
    Instinktiv griff er nach dem Handy auf dem Nachtschrank, um Marie anzurufen, und legte es im nächsten Moment wieder zur Seite. Fünf Uhr morgens. Ganz sicher schlief sie noch. Und wie konnte er von ihr erwarten, sich keine Sorgen um ihn zu machen, wenn er ihr immer wieder neuen Anlass dazu gab? Solange er denken konnte, war er stets der Unstrukturierte, der Konfuse von beiden gewesen, der egozentrische Einzelkämpfer, während Marie stets die Position der umsorgenden, vernünftigen und bodenständigen Schwester eingenommen hatte. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend die Spuren seiner durchzechten Nächte verwischt, um ihm Ärger mit den Eltern zu ersparen. Wie viele Male hatte sie ihm die Leviten gelesen, wenn er sich wieder mal dagegen sträubte, dem Familienalltag beizuwohnen anstatt sich stundenlang im Zeichnen von Comics oder Schreiben von Kurzgeschichten zu verlieren. Seine Bekanntschaft mit Emma hatte seine Weltanschauung um 180 Grad gedreht, ihm die Augen für den Rest der Welt geöffnet, nur um dieselbe Welt mit ihrem Tod völlig aus den Fugen zu reißen. Ein Ereignis, das Marie über Nacht in die alte Position der überfürsorglichen Schwester zurückgeworfen hatte. Ein Umstand, den er, nach allem, was sie in den letzten Monaten für ihn getan hatte, nicht mehr ausnutzen wollte. Zumindest nicht um fünf Uhr morgens.
    Er schob sich an der Bettlehne hoch und blieb für einen Moment regungslos sitzen. Er würde sich Tabletten besorgen. Gleich heute. In den ersten Wochen nach Emmas Tod hatte er Beruhigungsmittel verschrieben bekommen, die ihm lange Zeit treue Dienste erwiesen. Warum sollte er nicht erneut auf ihre Wirkung bauen?
    Mit angewinkelten Knien verharrte er eine Weile in der Position, bis ihm das Buch auf dem Nachtschrank auffiel. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, der Suche nach irgendeiner auch noch so befremdlichen Form von Nähe, griff er danach.

    Die Tage werden kürzer, sagt man. Aber ich finde, dass sie, je weiter das Jahr voranschreitet, immer länger werden. Die Dunkelheit zieht sich in endloser Schleife dahin und ergreift immer mehr Besitz von mir. Manchmal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr zu atmen. Dann kneife ich mir selbst in den Arm, um zu prüfen, ob ich noch einen Schmerz spüre. Anderen Schmerz. Schmerz, den man früher einmal als Schmerz definierte. Damals, als man noch nicht wusste, was wirklicher Schmerz eigentlich ist.
    Ich habe unsere Bilder von den Wänden und Regalen genommen und sie in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut, um sie gleich am nächsten Tag wieder herauszuholen. Wie konnte ich nur glauben, es mir damit leichter zu machen?
    Zumindest die Arbeit im Buchladen lenkt mich ein wenig ab. Und ich bin dankbar dafür. All die Bücher, die Geschichten aus einer Welt, in der vieles noch so gut, so vollkommen, so unschuldig ist. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten. Für denselben Lohn. Zweifellos wird er mich für verrückt halten. Aber was kann mich das stören?

    Er war sich sicher, dass es dieselbe Seite wie am Abend zuvor war. Und wieder schien der Inhalt ein vollkommen anderer zu sein. Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Unvermittelt drängten sich ihm die Bilder des Traumes auf. Das Kalenderblatt, das der Wind zu ihm getrieben hatte. Der 13. September. Seite 139. Konnte das tatsächlich ein Zufall sein? Und was hatte es mit dem seltsamen Inhalt auf sich? Die Worte einer Frau, die ihm so vertraut erschienen und doch vollkommen fremd waren?
    Er
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