DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
Selbst wenn sie ihn danach weder anrufen noch wieder treffen würde.
"Ich mag Bücher halt sehr gerne", fuhr sie fort und warf ein dezentes Lächeln hinterher.
"Schön zu hören, dass es noch Menschen gibt, die ihren Job wirklich lieben."
"Und du?", fragte sie. "Ich habe gehört, du machst irgendwas mit Steuern?"
Er lachte. "Irgendwas mit Steuern. Das klingt aber sehr - pauschal ."
"Dann habe ich vermutlich etwas falsch verstanden."
"Ich arbeite als Angebots- und Präsentationsdesigner in einer Gesellschaft für Unternehmens- und Managementberatung", stellte er richtig.
"Verstehe", log sie und merkte, dass es sie ebenso wenig interessierte wie der Jahrgang seines Weins. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Sie war nicht mal in der Lage, sein Aussehen wahrzunehmen, geschweige denn, ihn als gut oder nicht gut aussehend zu benennen. Er saß einfach da. In einem hellgrünen Hemd, unter dem sich die Abdrücke seines Unterhemdes abzeichneten. Das Einzige, das sie wahrnahm. Und das Einzige, das sie Claudia nach diesem Abend erzählen können würde. Ich habe die Abdrücke seines Unterhemdes gesehen.
"Na ja, man schlägt sich so durch", antwortete er. "Jeder hat halt so sein Steckenpferd, nicht wahr?"
Sie nickte. Steckenpferd. Unterhemd.
"Außerdem lerne ich auf diesem Wege sehr viele neue Menschen kennen", fuhr er fort. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie unterschiedlich die Anforderungen der einzelnen Kunden sind und wie vielschichtig die Kriterien, die auf die verschiedenen Arbeitsabläufe einwirken."
Steckenpferd. Unterhemd. Arbeitsabläufe.
Sie wurde müde.
"Würdest du mich für einen Augenblick entschuldigen?"
"Aber natürlich. Lass dir Zeit."
Sie verließ den Tisch und durchquerte den Raum in Richtung Damentoilette. Für ein paar Sekunden ließ sie ihren Blick durch das Restaurant schweifen, auf der Suche nach den von Claudia prophezeiten bewundernden Blicken der anwesenden Männer. Doch im selben Augenblick musste sie erkennen, dass sie gar nicht in der Lage wäre, Bewunderung von Wahrnehmung zu unterscheiden. Genauso wenig wie sie in der Lage war, Claudias Cousin als langweilig, selbstverliebt oder sehr aufmerksam einzuordnen. Er war ihr egal. Schlichtweg egal.
Vielleicht würde ihr auf der Toilette eine geeignete Ausrede einfallen, den Abend vorzeitig abzubrechen.
Kapitel 5
Ich habe von dir geträumt. Wie so oft. Und doch war es diesmal so viel intensiver als die Male zuvor. Als läge zwischen unserem letzten Gespräch und heute nur ein einziger Tag. Ich habe schon lange aufgehört, Claudia von meinen Träumen zu erzählen. Sie würde doch nur wieder sagen, dass ich mich ablenken soll, dass ich dich loslassen soll. Warum nur habe ich das Gefühl, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen - und am allermeisten vor mir selbst -, dass ich dich nicht loslassen kann? Tatsächlich ertappe ich mich immer wieder bei dem Gedanken, dass ich darauf warte, dass du zurückkommst. Dass ich nur eine gewisse Zeit zu überstehen habe. Ich weiß, dass das unmöglich ist, aber trotzdem erwische ich mich immer wieder bei der Vorstellung eines gemeinsamen Lebens. Du und ich. So wie es vorherbestimmt war. Es ist vielmehr ein Gefühl als ein Wissen. Ein Gefühl, dass mich von einem Moment auf den anderen plötzlich vollkommen ruhig werden lässt. Als wäre alles in Ordnung. Als käme alles ins Reine, ohne dass ich eine Ahnung habe, WIE es jemals ins Reine kommen kann. Denn trotz allem weiß ich, dass es unmöglich ist. Dass das Leben, wie ich es mit dir geführt habe, niemals wiederkehren wird.
Dennoch bleibt das Gefühl. Das Gefühl, dass alles einen Sinn hat. All der Schmerz. All die Sehnsucht. Auch wenn ich diesen Sinn bis heute nicht verstehen kann.
Er schlug das Buch zu und schob es in die Innentasche seines Mantels. Das Hupen eines Busses riss ihn aus seinen Gedanken. War er gemeint? Nein. Nur ein Radfahrer, der die Busspur anstelle des Fahrradweges benutzte.
Er senkte den Blick erneut auf den rissigen Asphalt unter seinen Füßen, während er Schritt für Schritt die Innenstadt hinter sich ließ. Wie kam er überhaupt auf den Gedanken, dass zwischen dem Buch und ihm, und somit zwischen Nita und ihm, eine Verbindung bestand? Stürzte er sich fernab jeder Logik in eine aussichtslose Suche, nur um sich von den eigenen Erinnerungen abzulenken? Oder war es vielmehr das Streben nach allem, das möglichst weit von seinen alten Prinzipien entfernt war? Den Prinzipien eines Lebens, von dem er wusste, dass es
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