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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind
Autoren: Das andere Kind
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ihr
    angenommen hätte, aber sie war nicht so kalt und ungerührt, wie sie gern sein wollte. Sie blieb
    unberechenbar für andere - und für sich selbst.
    Das machte sie, wie Leslie innerlich zitternd vor Angst feststellte, zu einer furchtbaren
    Feindin, hochgradig gefährlich. Zu keiner Minute war vorhersehbar, wie die nächste Minute
    aussehen würde.
    »Ich ließ Dave liegen und kehrte zur Farm zurück«, sagte Gwen, gleichmütig jetzt, als erzähle
    sie irgendeine harmlose Begebenheit, »und sah dich mit einer Taschenlampe herumwandern. Du bist
    dann losgezogen in Richtung Bucht, aber ich dachte, egal, auch wenn sie Dave findet, sie muss
    ja hierher zurückkommen. Du kriegst hier nirgendwo eine Verbindung mit dem Handy, was, wie man
    sieht, sein Gutes haben kann. Mein Vater hatte brav die Haustür abgeschlossen, auf dein Geheiß,
    wie ich annehme, aber er öffnete natürlich, als er meine Stimme hörte. Na ja, und nachdem ich
    ihn unschädlich gemacht hatte, musste ich im Grunde nur noch auf dich warten. Ich saß oben auf
    der Treppe. Den Schlüssel zum Arbeitszimmer hatte ich vorsichtshalber abgezogen. Ich konnte mir
    ja denken, dass du versuchen würdest, von dort zu telefonieren.«
    »Sehr schlau, Gwen«, sagte Leslie, »du hast wirklich jeden Schritt vorhergesehen.« »Ja, die
    dumme, naive kleine Gwen. Ihr habt mich ganz schön unterschätzt. Über dreißig Jahre lang. Ihr
    hättet alle ein viel schärferes Auge auf mich werfen sollen!«
    Leslie fragte sich, was sie darauf erwidern könnte. Eine Schuld anerkennen, die vorhanden war,
    die dennoch Gwens Vorgehen niemals rechtfertigen würde? Ohnehin hatte sie den Eindruck, dass es
    nichts nützen würde. Gwen war nicht bei Sinnen. Es ging für sie nicht mehr darum, Genugtuung zu
    erlangen, Verständnis zu finden. Sie hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Nach ihrer
    verqueren Sicht der Dinge konnte es für sie nur einen Weg hinaus geben, und vor diesem Weg
    schauderte es Leslie.
    Gwen schien sich gerade die gleichen Gedanken zu machen. Nachdenklich sagte sie: »Was mache ich
    jetzt mit dir, Leslie? Wir können nicht die ganze Nacht hier stehen und uns unterhalten.
    Ohnehin hatten wir einander nie viel zu sagen, und wir haben es auch jetzt nicht.«
    »Ich habe eine Verabredung mit Detective Inspector Almond«, sagte Leslie. »Seit Stunden müsste
    ich dort sein. Sie wird sich wundern. Sie wird nach mir suchen.«
    Gwen lächelte. Es war ein grausames, fast ein wenig schadenfrohes Lächeln.
    »Dann wird es ja Zeit, dass ich mir etwas für dich überlege«,
    erwiderte sie. Valerie Almond wurde das ungute Gefühl nicht los, das
    sich mit jeder Minute, die der Abend verrann, gesteigert hatte. Sie hatte lang in der Pizzeria
    gewartet, hatte mehrfach versucht, Leslie über deren Handy zu erreichen, aber ihr Anruf war
    nicht entgegengenommen worden. Schließlich war sie nach Hause gefahren, fand dort jedoch auch
    keine Ruhe. Sie rief einige Male in Fiona Barnes' Wohnung an, aber auch dort meldete sich
    niemand. Gegen halb zehn hielt sie es nicht mehr aus. Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr zur
    Prince-of-Wales-Terrace hinüber. Zwar hielt sie es für unwahrscheinlich, dass Leslie dort sein
    könnte, denn es gab keinen Grund, weshalb sie dann nicht hätte ans Telefon gehen sollen, aber
    immerhin wollte sie sich vergewissern.
    Reiner Aktionismus vielleicht, dachte sie, während sie ihren Wagen in eine Parklücke
    manövrierte, ich fühle mich hilflos, und deshalb agiere ich auf irgendeine Weise. Weil es
    besser ist, als herumzusitzen.
    Sie stieg aus. Es machte sie einfach beklommen, dass sie von Leslie überhaupt nichts mehr
    gehört hatte. Sie hatte ihr etwas Wichtiges im Zusammenhang mit der Ermordung ihrer Großmutter
    sagen wollen. Sie hatte aufgeregt geklungen, angespannt. Zwanzig Minuten nach ihrem Telefonat
    hatte sie in der Pizzeria sein wollen. Sie kannte Scarborough gut, war hier aufgewachsen. Man
    konnte ausschließen, dass sie sich verfahren hatte. Und weshalb sollte sie auch in einem
    solchen Fall nicht anrufen?
    Etwas st immt da nicht, dachte Valerie. Von Dave Tanner gab es noch immer keine Spur. Und nun schien auch Leslie
    verschwunden.
    Vor der Eingangstür zu dem riesigen Appartementkomplex stand ein Mann. Valerie fragte sich,
    weshalb er um diese Uhrzeit hier herumlungerte. Wie jemand, der Böses im Schilde führte, wirkte
    er allerdings nicht. Eher wie jemand, der ratlos war.
    Sie ging an ihm vorbei und betätigte die Klingel neben Fiona Barnes'
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