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Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick

Titel: Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Französisch und ab der sechsten Klasse Englisch lernten.
    Meine Mutter war Analphabetin, eine lebenskluge Frau, die ein phänomenales Gedächtnis hatte. Mein Vater wurde gezwungen, von der Schule abzugehen, blieb aber sein Leben lang ein großer Liebhaber der Bücher. Er las täglich, obwohl er als Bäcker sieben Tage in der Woche von 4 Uhr bis 16 Uhr hart arbeiten musste.
    Unser Haus lag in einer kleinen Gasse der Altstadt, durch die der Legende nach der geläuterte Paulus geflüchtet war. Am Ende der Gasse liegt die Kapelle, die an seine Flucht über die Mauer erinnern soll.
    Meine Mutter sagte oft, stell dir vor, was aus der Welt geworden wäre, wenn meine Vorfahren Paulus ausgeliefert hätten. Eine Welt ohne Christentum! Jesus wäre der Held einer jener revolutionären Sagen des Orients geblieben. Die Aussage meiner Mutter zeigt, wie dünn die Gegenwart im Bewusstsein der Araber ist und wie nahe Legende und Wirklichkeit im Alltag meiner Gasse waren.
    In meiner Nachbarschaft las, abgesehen von meinem Vater, kaum jemand Bücher, aber die mündliche Erzählkunst beherrschten die alten Frauen und Männer so gut, dass ich den traditionellen Hakawati nahe der Omaijadenmoschee als langweiligen, primitiven Marktschreier empfand.
    Meine erste Begegnung mit Büchern geschah im Zimmer meiner Eltern. Mein Vater besaß eine Minibibliothek, in der es eine gute Ausgabe der Bibel und eine teure Handschrift der Reden des berühmten Johannes Damascenus, auch Johannes goldenen Mundes genannt, gab. Er war Theologe und Lyriker. Sein Vater war Finanzminister des ersten Omaijadenkalifen Mu’awija. Neben diesen zwei großen Werken besaß mein Vater ein Buch über wundersame Erscheinungen der Erde, zwei Anthologien arabischer Lyrik, ein Buch über berühmte Prozesse der Geschichte, vom Fall der Charlotte Corday, die Marat umgebracht hat, bis zum Fall des syrischen Studenten Suleiman al Halabi, der Kleber, Napoleons Vertreter in Ägypten, erstochen hatte und barbarisch hingerichtet wurde.
    Alle Bücher, außer dem des Johannes, habe ich verschlungen, obwohl mein Vater der Ansicht war, sie seien nichts für Kinder. Zwei Bücher, die Bibel und das Buch der Prozesse, beeinflussen bis heute mein Schreiben und Denken.
    Mit zehn Jahren musste ich in ein Kloster in den Libanon gehen. Ich blieb dort drei Jahre, lernte einige Autoren der Weltliteratur kennen – und wurde süchtig nach Büchern. Es gab nur zwei Möglichkeiten in der freien Zeit: Man konnte in die Kirche oder in die Bibliothek gehen. Ich entschied mich für die Bibliothek und war fasziniert von den vollen Bücherregalen. Hier saß ich stundenlang, umgeben von Bücherbergen, die ich aus Gier geholt hatte, aber nie zu Ende lesen konnte; Enzyklopädien und dieses Nicht-zu-Ende-lesen-Könnenerzeugten meine Sucht nach Büchern. Hier lernte ich Jules Verne kennen, und von ihm lernte ich für immer die Regel: Wenn man gut recherchiert, kann man gar nicht genug übertreiben.
    Das Klosterleben war nichts für mich, ich wurde krank. Nur ein zufälliger Besuch meines Vaters rettete mir das Leben. Ich wurde sofort ins Krankenhaus Hôtel Dieu in Beirut gebracht. Nach der Genesung wollte ich nicht mehr zurück.
    Vom Kloster zurückgekommen, verschlang ich Berge billiger Tarzanbücher (nach E. R. Burroughs) und die Krimis des Maurice Leblanc ( Arsène Lupin ), die ich von Nachbarn bekommen hatte. Mein Vater mochte diese Lektüren nicht und glaubte sein Leben lang, Kriminalromane machten kriminell. Ich musste die kleinformatigen Krimis oft in Schulbücher stecken, und mein Vater wunderte sich, dass ich ununterbrochen Mathematik lernte.
    Doch in meiner Kindheit hat mich ein anderes Erlebnis zutiefst beeindruckt.
    Radio Kairo verkündete die Sensation, die Geschichten der Scheherazade 1001 Nächte lang auszustrahlen, aber leider nachts um halb zwölf. Meine Mutter wollte mir das verbieten, doch nach einem langen Kampf erreichten wir einen Kompromiss. Ich ging schon um sieben brav ins Bett, und meine Mutter weckte mich leise kurz vor halb zwölf. Über zwei Jahre und acht Monate dauerte das, und Nacht für Nacht hielt Mutter ihr Wort und weckte mich.
    Ich schlich dann ins Zimmer meiner Eltern, wo das Schmuckstück Radio mit dem magischen Auge stand.
    Wir saßen im Dunkeln, um meinen schlafenden Vater nicht zu wecken. Als Bäcker musste er jeden Tag um vier Uhr aufstehen. Die Sendung begann immer mit der Scheherazademusik von Rimski-Korsakow, und dann folgte das Hörspiel.Wir verbrachten eine halbe
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