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Abdahn Effendi. Kleinere Erzählungen

Abdahn Effendi. Kleinere Erzählungen

Titel: Abdahn Effendi. Kleinere Erzählungen
Autoren: Karl May
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auch wir die Absicht hatten, bei dem Grabe des Heiligen zu übernachten. So fand er Zeit, sich vorzubereiten und uns derart zu empfangen, wie ich erzählte.
    Sein Charakter stimmte genau mit der Vorstellung überein, die ich mir von ihm gemacht hatte. Er war ein harter, rücksichtsloser und rachgieriger Mann, der aus seinem Leben den Begriff der Verzeihung vollständig ausgestrichen hatte. Er hatte den heutigen Ritt in der festen Absicht unternommen, den vermeintlichen Tod seines Bruders in blutigster Weise zu rächen. Und nun tötete er ihn selbst; nun war er selbst der Mörder! Das wirkte so auf ihn, als ob die Kugel ihn selbst getroffen habe. Nun kauerte er mit dem, den er hatte erschießen wollen, im Grabe bei dem Toten; der eine rechts, der andere links von ihm. Was sprachen sie?
    Es verging eine Viertelstunde nach der andern, ohne daß sie sich hören oder sehen ließen. Wir bereiteten die Lager; die Münazah auf der einen und die Manazah auf der anderen Seite des Wäldchens. Der Abend kam. Er brachte andere Luft. Es erhob sich ein Wind, der in kräftigen Stößen die Atmosphäre reinigte, obwohl wir sie in unserer geschützten Lage nicht fühlten. So kam es, daß der Himmel wieder sichtbar wurde. Der Mond erschien. Die weißgekalkten Mauern des Grabes sammelten seine Strahlen und warfen sie uns in zart bläulichen Reflexen zu. Da regte es sich im Innern. Das Leben erhob sich von der blutig feuchten Erde, um sich von dem Tode zu trennen. Die beiden Feinde erschienen unter der Tür. Sie riefen nach Merhameh, die zu ihnen kommen solle, um Zeugin ihres Schwures an der Leiche des Erschossenen zu sein. Sie stieg die Stufen hinauf und ging mit ihnen hinein. Nach einiger Zeit kamen sie wieder heraus, alle drei. Vor dem Eingange blieben sie stehen, von allen gesehen. Omar Ben Amarah erhob seine Stimme:
    »Ihr Krieger der Münazah, hört, was Euch Merhameh, die Freundin unserer beiden Stämme, zu sagen hat!«
    Und Hassan Ben Masuhl rief:
    »Ihr Krieger der Manazah, schaut her zu uns, was Merhameh Euch zeigt!«
    Er öffnete seine Arme, zog den Scheik der Münazah an sich und küßte ihn. Sein Kuß wurde dreimal erwiedert. Da deutete Merhameh auf diese vom Monde hell beschienene Gruppe und verkündete in tief bewegtem Tone:
    »Allah nur allein ist gerecht. Nimmt der Mensch die Rache in die Hand, so trifft er stets niemand, als nur den eigenen Bruder. Von nun an sei Friede!«
    »Sei Friede! Sei Friede!« riefen die beiden Anführer, indem sie die Hände beteuernd hoben.
    »Sei Friede! Sei Friede!« wiederholten auch Halef und ich.
    »Sei Friede! Sei Friede!« erklang es von den Lippen aller Münazah und Manazah, welche die Trennung ihrer Lagerplätze vergaßen und auf einander zueilten, um dem versöhnlichen Beispiele ihrer Scheike zu folgen.
    Seit jener Zeit ist stete Freundschaft zwischen ihnen gewesen. Wenn sich je einmal ein Zwiespalt erhob, der zum Kampfe zu führen schien, so ritten die beiderseitigen Aeltesten zum Grabe des Heiligen, wo Ali Ben Masuhl unter den Sykomoren zur Ruhe bestattet worden war. Da wurde beraten und dabei an Merhameh gedacht. Der eine Stamm hatte dabei ihre Bitten, der andere ihre Warnungen zu wiederholen, und stets hat sich dann dasselbe Resultat ergeben, das sich an dem von mir geschilderten Tag ergab:
    »Es sei Friede! Es sei Friede!«
[Fußnoten]
    1 Versammlung der Aeltesten.
     
    2 Geistlichen.
     
    3 Isabellfarben.
     
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