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80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)

80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)

Titel: 80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
Autoren: Vina Jackson
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gewohnt, dass man mich betrachtete. Und das ausgiebig.
    Nach einem kurzen Brummen erklang aus den Lautsprechern an der Garderobenwand Musik, Duke Ellingtons Version von »Minnie the Moocher«, das Zeichen für Pinnie, auf die Bühne zu gehen. Sie war zierlich, kurvig und wunderschön mit ihrer bunt gemischten Abstammung. Ihr dunkles, glänzendes Haar, das sich bis zu ihrer Taille ergoss, schlang sie sich beim Tanzen gern um den Körper. Was die Gäste aufreizte, denn dieser neckische haarige Vorhang verbarg zum Teil ihre Brüste mit den dunklen Nippeln. Eine weitere Besonderheit an ihr war das ungezähmte Schamhaar, das üppig und wild wie bei einem Geschöpf aus dem Dschungel wucherte. Außerdem hatte sie mitten auf der Stirn ein Muttermal, und statt es zu überschminken oder durch andere Reize davon abzulenken, zog sie gezielt mit ihrem wie mit einem Lineal geschnittenen Pony die Aufmerksamkeit darauf. Sie war die einzige Kollegin, die freundlich zu mir war und hin und wieder zwischen zwei Auftritten mit mir sprach. Die anderen ignorierten mich hartnäckig. Und ich sie.
    Mir blieb mindestens noch eine Stunde Zeit, bis ich auf die Bühne musste, denn ich kam als Letzte an die Reihe.
    Ich nahm das Buch, das ich gerade las, aus meinem Korb, machte es mir in einem Sessel bequem und blendete meine unmittelbare Umgebung vorübergehend aus. Seit Neuestem war ich geradezu süchtig nach Romanen. Dieser handelte von einem Wanderzirkus, eine opulente Geschichte, und war ausgesprochen abwechslungsreich. Realistische Romane mochte ich weniger. Sie erinnerten mich zu sehr an die Bücher, die ich in meiner ukrainischen Schule und später in St. Petersburg als Pflichtlektüre hatte lesen müssen – anspruchsvolle, aber nicht enden wollende Werke über die Mühen der Menschheit, mit denen ich nie etwas anfangen konnte.
    Als die letzten Töne von Van Morrisons Song »Into the Mystic« verklangen, blickte ich auf. Leise vor sich hin fluchend, rauschte Sofia von der Bühne in die Garderobe. Offenbar hatte während ihres Auftritts irgendetwas an ihrem Kostüm gehakt. Der Blick, mit dem sie mich bedachte, als sie sich vor ihren Spiegel setzte und sich abzuschminken begann, war gehässig, als trüge ich die Schuld an diesem banalen Vorfall. Vielleicht ärgerte sie sich, weil mein Bühnenkostüm so schlicht war und ohne Klettverschlüsse, Schnallen, Schnelllösevorrichtungen, Knöpfe und Reißverschlüsse auskam.
    In fünf Minuten würde die Bühne mir gehören. Ich schloss die Augen, um mich mit meiner ganzen Aufmerksamkeit darauf vorzubereiten. Ein Striptease hat nichts Erotisches, sondern ist einfach nur Arbeit; doch wenn ich es schaffte, die Umgebung auszublenden und auf eine andere Ebene zu gelangen, konnte ich wie von unsichtbaren Flügeln getragen durch meine Nummer gleiten. Seit letztem Jahr tanzte ich zu Debussys »La Mer« und kannte inzwischen jede Kräuselung des heraufbeschworenen Gewässers und jede sinnliche Windung der Melodie. Es war Cheys Lieblingsmusik gewesen, er mochte das Meer sehr. Als ich zum ersten Mal zu dieser Komposition getanzt hatte, war es allein für ihn gewesen. Ein privater Tanz.
    Tanzen, ausziehen, mich darbieten wurden zu einer Art geheimen Zeremonie, bei der ich zugleich die Rolle des Opferlamms und die der Hohepriesterin mit dem tödlichen Messer einnahm. In diese Fantasiewelt begab ich mich und blieb darin für die Dauer meines Auftritts.
    Ich schaltete ab.
    So wie es mir immer gelang.
    Mein Zeichen nahm ich wie aus großer Ferne wahr. Madame Denoux hatte mein Band in das Abspielgerät gelegt, und meine leisen Atemzüge drangen aus den Lautsprechern. Es war stockfinster im Zuschauerraum, als ich auf Zehenspitzen auf die Bühne huschte und meine Ausgangsposition einnahm.
    Urplötzlich stand ich im Licht der Scheinwerfer.
    Die Zuschauer schnappten nach Luft.
    Abend für Abend erlebte ich diese Reaktion. Nicht weit von mir entfernt, verborgen hinter dem Bühnenvorhang, stand Madame Denoux, und ich wusste, dass sie zufrieden lächelte.
    Zuerst nur kaum wahrnehmbare Bewegungen – als wollte ich meine Energien sammeln, als zöge ich mich an jenen Ort in meinem Inneren zurück, wo es nichts als Stille und einen ewig summenden Kern gab, wo eine verborgene Kraft darauf wartete, aufgenommen, in jede Faser meines Körper gesandt und dann genutzt zu werden. Ich war die Puppenspielerin, die sich an eigenen Fäden über die Bühne führte.
    In der ersten Minute mimte ich, dass eine sanfte Brise über die Wogen
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