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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages
Autoren: Sergej Lukianenko
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Kraft einer Anderen.
    Ich trat aus dem Zwielicht heraus - in der Menschenwelt waren noch nicht mal ein paar Sekunden vergangen - und strich mir das Haar zurecht. Da mir Schweiß auf der Stirn stand, holte ich ein Taschentuch hervor und tupfte ihn ab. Und klar doch: Als ich danach in den Spiegel blickte, konnte ich mich davon überzeugen, dass die Wimperntusche verschmiert war.
    Mich um mein Aussehen zu kümmern blieb mir nun wirklich keine Zeit. Ich warf mir einfach einen leichten Schleier der Attraktivität über, der es keinem Menschen erlauben würde, das ruinierte Make-up zu erkennen. Wir nennen diesen Zauber nach dem traditionellen Gewand muslimischer Frauen »Parandscha« und lassen es uns normalerweise nicht entgehen, einen Anderen im »Parandscha« auszulachen. Trotzdem bedienen sich alle dieses Zaubers. Wenn die Zeit nicht reicht, wenn man unbedingt einen guten Eindruck machen muss, wenn man sich einen Spaß erlauben will. Eine junge Hexe aus Pskow, die nichts andres hinkriegte, als sich in den »Parandscha« zu hüllen, arbeitet schon seit drei Jahren als Mannequin. Und kommt damit über die Runden. Ihr einziges Pech: Bei Fotos und Videos wirkt der Zauber nicht, weshalb sie keines der unzähligen Angebote, in die Werbung zu kommen, annehmen kann.
    Heute hatte sich alles gegen mich verschworen. Der Fahrstuhl brauchte eine Ewigkeit - der zweite funktionierte schon lange nicht mehr -, und als ich aus dem Haus kam, stieß ich mit Witalik zusammen, dem Jungen, der über uns wohnte. Als er mich im »Parandscha« sah, erstarrte er förmlich zur Salzsäule und lächelte einfältig. Seit er dreizehn ist, ist er in mich verliebt, und zwar schwer, unerwidert und wortlos. Was auf meine Unzulänglichkeit zurückgeht, wenn ich ehrlich sein soll. Damals erlernte ich gerade Betörungszauber und wollte sie bei diesem Jungen aus der Nachbarschaft ausprobieren, der mich ohnehin nicht genug anstarren konnte, wenn ich im Badeanzug auf dem Balkon saß und mich sonnte. Also habe ich an ihm geübt! Dabei habe ich die Begrenzungsfaktoren übersehen. Sodass er sich ein für alle Mal in mich verliebt hat. Wenn er mich längere Zeit nicht sieht, lässt sein Gefühl etwas nach, doch ich brauche ihm nur kurz zu begegnen - und schon geht alles von vorn los. Glück in der Liebe wird er jedenfalls nie finden.
    »Witalik, ich hab's eilig«, sagte ich lächelnd.
    Doch er hatte sich bereits vor mir aufgebaut und blockierte meinen Weg. Dann wagte er ein Kompliment. »Du siehst heute wunderschön aus, Alissa.«
    »Danke.« Ich schob ihn sanft beiseite und spürte, wie mein Nachbar erbebte, als mein Arm seine Schulter berührte. Sicherlich würde er sich eine Woche an diese Berührung erinnern...
    »Ich habe meine letzte Prüfung bestanden, Alissa!«, rief er mir schnell nach. »Das war's, jetzt bin ich Student!«
    Ich drehte mich um und sah ihn mir aufmerksam an.
    Dieser Konsument von Antipickelcreme hegte doch wohl nicht etwa irgendwelche Illusionen? Hoffte er etwa, wenn er ein Studium aufnimmt, sein »Erwachsenenleben« beginnt, kann er irgendetwas von mir wollen?
    »Um die Armee drückst du dich also?«, fragte ich. »Die Männer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Alles lappen. Keiner mehr, der dienen will, Lebenserfahrung sammeln und danach studieren.«
    Langsam erstarb sein Lächeln. Ein Bild für Götter!
    »Tschüss, Witalka«, sagte ich. Und sprang aus dem Haus hinaus in die drückende sommerliche Hitze. Meine Laune hatte sich jedoch etwas gehoben.
    Es ist immer komisch, diese verliebten Jüngelchen zu beobachten. Mit ihnen zu flirten ist langweilig, mit ihnen ins Bett zu gehen widerlich, aber sie zu beobachten ist das reinste Vergnügen. Irgendwann muss ich ihm mal einen Kuss geben...
    Übrigens war schon eine Minute später jeder Gedanke an meinen verliebten Nachbarn verpufft. Mit ausgestrecktem Daumen stellte ich mich an den Straßenrand. Das erste Auto fuhr an mir vorbei - der Fahrer verschlang mich zwar mit Blicken, doch neben ihm saß seine Frau. Das nächste Auto hielt an.
    »Ich muss ins Zentrum«, sagte ich, wobei ich mich etwas zum Fenster hinunterbeugte. »In die Maneshnaja.«
    »Steigen Sie ein.« Der Fahrer, ein etwa vierzigjähriger Mann mit hellbraunem Haar und intelligentem Aussehen, beugte sich herüber und öffnete die Tür. »Eine so attraktive Frau kann ich doch nicht stehen lassen.«
    Ich schlüpfte auf den Beifahrersitz des alten Shiguli, eines »Neuner«, und ließ das Fenster ganz herunter. Wind
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