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0660 - Die Totenstadt

0660 - Die Totenstadt

Titel: 0660 - Die Totenstadt
Autoren: Jason Dark
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Hütte bezeichnete er nicht als Zierstück. Er hatte eine andere Funktion: Der Mann konnte davon sein Schicksal ablesen.
    Jeden Morgen schaute er hinein und jeden Morgen betrachtete er dabei sein Gesicht, dessen Anblick er einem anderen Menschen nicht zumuten wollte.
    Auch an diesem Tag blieb er vor dem Spiegel stehen, der in einem schlichten Bambusrahmen steckte. Wieder besah er sich und wieder gab der Spiegel das Bild seines Gesichts zurück, das zu einer furchtbaren Fratze geworden war.
    Haut hatte sich an einigen Stellen gelöst, sodass rohes Fleisch zum Vorschein gekommen war. Die Wunden nässten immer, sie waren einfach nicht trocken zu bekommen, da konnte er tupfen und pudern, so viel er wollte, er musste diesen schlimmen Tribut zollen. An die schrecklichen Schmerzen, die auftraten, wenn er wieder ein Stück Haut verlor, hatte er sich längst gewöhnt, auch an den Anblick, aber er konnte ihn anderen Menschen nicht zumuten, sie hätten geschrieen und wären vor ihm davongelaufen. Deshalb verdeckte er sein Gesicht mit der Kapuze.
    Während er vor dem Spiegel stand, dachte er nach. Nicht über sein Schicksal. Er ließ den Tag Revue passieren, der sich allmählich seinem Ende entgegenneigte.
    Es war ein normaler Tag gewesen - oberflächlich betrachtet, doch Aoyama gehörte zu den Menschen, die tiefer dachten, die ein Gespür für die Vorgänge besaßen, die noch nicht eingetreten waren. Diese Vorahnungen hatten ihn die gesamte zweite Hälfte des Tages nicht losgelassen, sie waren geblieben und hatten sich gegen Abend noch verstärkt. Aoyama ging davon aus, dass es keine ruhige Nacht für ihn werden würde, und er stellte sich dementsprechend darauf ein.
    Hielt er sich in seinem Haus oder im Garten auf, trug er bequeme Kleidung. Nur wenn ihn sein Weg woanders hinführte, streifte er die Kampfkleidung über.
    An diesem Abend verzichtete er darauf. Dafür drehte er sich um und schritt quer durch die Hütte auf eine dünne Tür zu, zwischen deren Holzleisten eine fein bemalte Papierbespannung steckte. Hinter der Tür lag sein Schlafzimmer.
    Ein Futonbett, eine Schale mit frischem Wasser, zwei kleine Öllampen, die ihr Licht abgaben, ein glatter Boden und ein relativ hoher Schrank mit zwei Türen, die wegen ihrer wundervollen Intarsienarbeit auffielen, stellten die Einrichtung dar.
    Aoyama ging auf den Schrank zu. Hier bewahrte er seine wichtigsten Dinge auf.
    Die rechte Tür öffnete er, die linke blieb geschlossen. Mit zielsicherem Griff fasste er in das Halbdunkel des Schranks und holte aus ihm eine Waffe hervor.
    Aus der Scheide ragte der Griff eines Samuraischwertes nach oben. Ein schmaler Gürtel sorgte dafür, dass Aoyama die Waffe um die Taille legen konnte, was er auch tat, bevor er so gerüstet den Raum wieder verließ, um vor dem Spiegel stehen zu bleiben. Er interessierte sich nicht für sein Gesicht. Die Prüfung hatte er hinter sich, er wollte seine Reflexe und seine Geschicklichkeit testen, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, sie zu brauchen.
    Es gab kein Licht in dem Raum. Auch die Sonne hatte sich nun zurückgezogen. Die Hügel schluckten ihren letzten Schein. Um die Wohnstatt herum hatte sich die Dunkelheit ausgebreitet und schickte ihre Vorboten auch durch die schmalen Fenster, wo sie sich als Schatten in dem Raum verteilten.
    Die Gestalt des Mannes warf ebenfalls einen Schatten, der plötzlich in bizarre Zuckungen geriet, als Aoyama das Schwert gezogen hatte und mit seinen Übungen begann.
    Auch ein Nichtfachmann hätte sofort erkennen können, dass hier ein Meister seines Fachs trainierte.
    Aoyama beherrschte das Schwert bis zur Perfektion. Die schmale Klinge glänzte wie ein blaustählerner Blitz, wenn sie durch die Luft fuhr und dabei fauchende Geräusche hinterließ. Er schlug Kreuze, ließ die Klinge von oben nach unten sausen, zeichnete Kreise und Achten in die Luft, blieb dabei nie auf dem Fleck stehen und bewegte sich schattenhaft schnell.
    Als die Minute vorbei war, atmete er kaum schneller. Seine Kondition und Konstitution waren hundertprozentig in Ordnung, und darauf legte er großen Wert.
    Mit einem letzten Schwung zeichnete das Schwert einen Kreis durch die Luft, bevor es dann glatt und zielsicher in der Scheide verschwand. Aoyama hatte nicht erst hinzuschauen brauchen. Bei ihm liefen diese beinahe schon rituellen Handlungen automatisch ab.
    Scharf drehte er sich um. Als Schatten innerhalb der Schatten näherte er sich dem Ausgang. Für einen Moment blieb er auf der Türschwelle
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