Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0183 - Der Mann, der das Grauen erbte

0183 - Der Mann, der das Grauen erbte

Titel: 0183 - Der Mann, der das Grauen erbte
Autoren: Wolfgang E. Hohlbein
Vom Netzwerk:
wehte zusätzlich eine kühle, erfrischende Brise über das Ufer.
    Montgomery drehte den Zündschlüssel herum und zog die Handbremse an. Der Motor des altersschwachen VW erstarb mit einem letzten grollenden Brummen, und für eine Winzigkeit war das leise Plätschern der Wellen und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen ringsum das einzige Geräusch. Dann schaltete Montgomery das Autoradio ein. Leise Musik drang aus versteckt eingebauten Lautsprechern, die wahrscheinlich teurer gewesen waren als der ganze Wagen.
    Er lächelte nervös, und das Zucken seiner Augenwinkel verriet, daß er nicht halb so ruhig und selbstsicher war, wie er tat.
    »Es ist… schön hier«, sagte er lahm. »Nicht?«
    Mary-Lynn erwiderte sein Lächeln unsicher. Sie hatten lange darüber gesprochen, ob und wann sie es tun würden, aber jetzt, als sie sich endlich ein Herz genommen hatten und hier herausgefahren waren, war sie plötzlich nervös. Sie hatte Angst vor ihrer eigenen Courage, und ein Blick in Montgomerys Gesicht sagte ihr, daß es Montgomery genauso ging.
    »Ich… ich weiß nicht«, stotterte sie.
    »Was weißt du nicht?«
    Sie zuckte mit den Schultern und blickte starr aus dem Fenster. Es wurde jetzt rasch dunkel, und die Schatten der Bäume und Büsche ringsum wurden länger und massiger.
    »Hast du Angst?«
    Sie zuckte erneut mit den Schultern. Natürlich hatte sie Angst. Genau wie Montgomery. Und genau wie er hatte sie Angst es zuzugeben. Verdammt, ich bin alt genug, versuchte sie sich einzureden. Aber das nützte nicht viel. Mary-Lynn lernte in diesem Augenblick den Unterschied zwischen Theorie und Praxis kennen, und sie begriff allmählich, daß auch sie im Grunde noch genauso verklemmt und gehemmt waren wir ihre Großeltern damals.
    »Ich weiß nicht… ob… ob ich überhaupt will«, sagte sie schließlich.
    Auf Montgomerys Gesicht erschien ein zärtlicher Ausdruck. »Natürlich willst du, Dummerchen«, sagte er. »Wir haben doch oft genug darüber gesprochen, oder? Und außerdem liebe ich dich.«
    Mary-Lynn lächelte. »Liebe…« sagte sie nachdenklich. »Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt weiß, was das ist.«
    »Hm?«
    »Ich meine… ach, vergiß es.«
    Sie drehte sich halb auf dem Beifahrersitz herum und riß mit einer fast trotzigen Bewegung am Reißverschluß ihres Kleides. »Hilf mir lieber, bevor ich es mir anders überlege«, sagte sie.
    Montgomery beugte sich zu ihr herüber, öffnete den Reißverschluß eine Handbreit und küßte zärtlich ihren Nacken. Sie spürte, wie eine Welle der Wärme durch ihren Körper flutete und alle ihre Zweifel und Gewissensbisse davonzuschwemmen begann. Aus dem Autoradio drang leise, zärtliche Musik. Minutenlang saßen sie still da, ihre Körper wie schutzsuchend aneinandergepreßt, ohne daß einer von ihnen etwas getan oder gesagt hätte.
    »Siehst du«, flüsterte Montgomery nach einer Weile. »Du bist im Grunde… was war das?« Er richtete sich plötzlich kerzengerade auf, löste seinen Arm von ihrer Schulter und starrte aufmerksam in das Halbdunkel hinter den Wagenscheiben.
    »Was?« fragte Mary-Lynn verwirrt. Der Zauber des Augenblicks war zerplatzt wie eine Seifenblase. Der alte VW war kein Märchenschloß mehr, Montgomery nur noch ein großer, etwas tölpelhafter Junge, und die Musik aus den Lautsprechern schien plötzlich kitschig und aufdringlich zu klingen.
    »Ich habe nichts gehört«, wiederholte sie. Sie gab sich Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten, aber sie konnte ihre Enttäuschung nicht völlig verbergen.
    »Aber ich.« Montgomery nickte grimmig. Er beugte sich halb über sie und fummelte an der Seitentasche ihres Sitzes herum. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen kurzen, gedrungenen Toschläger mit einer Bleikugel an der Spitze. »Vielleicht ein Spanner«, murmelte er halblaut. »Ich gehe nachsehen.«
    »Muß das sein?«
    Montgomery lächelte breit, um seine Unsicherheit zu verbergen. »Ich kenne diese Typen«, sagte er beruhigend. »Sie sind harmlos. Meistens laufen sie weg, wenn sie merken, daß man sie gesehen hat.« Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die niedrigen Büsche, die sich fast bis an den linken Vorderreifen des VW heranpirschten.
    »Laß uns wegfahren«, drängte Mary-Lynn. Das Halbdunkel dort draußen machte ihr Angst.
    »Wegfahren?« Montgomery reckte kampflustig das Kinn vor. »Wegen èines harmlosen Spanners?« Er fuhr herum, riß den Wagenschlag auf und sprang mit einem Satz ins Freie. »Also«, rief
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher