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Verrückte Lust.

Verrückte Lust.

Titel: Verrückte Lust.
Autoren: Henry Miller
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Abends kam Tony Bring spät nach Hause und fand Hildred allein, den Kopf auf die Arme gelegt. Sie weinte. Und Vanya? Vanya war in ihrem Zimmer und kritzelte – sie legte bläulichgrüne, makellose Eier, so hübsch wie Taubeneier. Es war ein Drama im Gange, doch in welchem Akt man sich befand oder was die Handlung war, wußte er nicht. Verschlossene Seelen: zugeknöpft und schweigsam wie Ganoven. Keine zarten Polypen, auch wenn sie miteinander im Krieg lagen. Seltsam, daß ausgerechnet jetzt Konflikte aufbrachen, wo doch alle Arbeit hatten und Paris näher denn je war. Vielleicht war an der Kunstakademie etwas schiefgegangen, oder vielleicht hatte Vanya wieder einmal die Schlampe gespielt… Gewiß, es war idiotisch, mit einem Stoffetzen vor der Brust auf einem Hocker zu sitzen oder träumend auf einem Bein zu stehen. Wer konnte ihnen einen Vorwurf machen, wenn sie sich zwischendurch mit ein bißchen Gin stärkten? Die Nachtigall von Lesbos war es zuweilen müde, Marmor zu imitieren und zu Träumen zu inspirieren, und gab sich dann einer Hysterie hin. Es war die Hysterie einer Statue. Doch wenn ein gütiger Mensch ihr ein paar Schneeflöckchen gegeben hatte, wurde sie wieder gefügig, verwandelte sich in Marmor und verlor nie das Gleichgewicht. Wenn sie dann die Akademie verließ, flog sie dahin wie ein Kolibri und spreizte ihren feurig leuchtenden Schwanz. Durch die ausgeprägten Posen entwickelte sie eine Nostalgie, was ein ausgefallenes Wort für »Rückenschmerzen« ist. Hildred behauptete hartnäckig, daß sie Nostalgie meinte, aber Nostalgie war das falsche Wort. Sie hatte kein Heimweh, sondern ein Rückenleiden, hervorgerufen durch das Fliegen oder das Posieren als Geflügelte Siegesgöttin. Gelindert wurden die Schmerzen erst, als man ihr Schneeflöckchen gab.
     Und Tony Bring – womit verdient er seinen Lebensunterhalt? In letzter Zeit war er so still, so gedämpft. Wenn man diesen ruhigen, nüchternen Menschen nach Hause gehen sieht, würde man nie auf den Gedanken kommen, daß er die ganze letzte Nacht aus Leibeskräften gebrüllt hat. Er ist ganz eindeutig keiner von denen, die auf der Straße oder in der U-Bahn die Stimme erheben. Wenn er den Mund aufmachte, klang es anfangs eher wie ein Flüstern. Doch mit Flüstern verkauft man keine Zeitungen. Nein, das hat er ziemlich schnell gelernt. Man mußte sich eine Stentorstimme zulegen, eine Stimme aus Messing, die auch einen Toten aus seinen Träumen schrecken würde. Man mußte schieben und drängeln, man mußte die Ellbogen einsetzen und lauter schreien als die anderen. Nur so wurde man seine Last los. An Samstagabenden wußte Tony Bring, was Notalgie war: eine Verkrümmung des Rückgrats. In seinem Fall allerdings waren die Ursache dafür nicht irgendwelche Höhenflüge, denn wenn er Flügel hatte, so war er sich ihrer nicht bewußt, oder sie waren verkümmert. Er fühlte sich eher, wie sich eine Schnecke fühlen muß, die mit ihrem Haus auf dem Rücken umherkriecht. Und als der Schnee kam und die Schlagzeilen verkündeten, es sei ein Schneesturm, dann war es ein Schneesturm, denn ein Schneesturm ist ein Schneesturm. Die weichen, knochenlosen, harmlosen, geschmackslosen, geruchlosen Flocken trugen die Botschaft durch seine Nervenbahnen und verdünnten sein Blut… Obwohl er nun enger denn je mit der Großstadtpresse verbunden war, las er nichts als Schlagzeilen. Die Schlagzeilen waren die von Wirrköpfen errichteten Deiche, welche die Flut von Druckerschwärze abhalten sollten, die mit jeder Ausgabe stieg und die Bewohner zu ertränken drohte. Sie wurden in Schweiß und Gestank geschrieben, sie verschworen sich wie Prostituierte, sie schrien mit bösartiger Wut, sie verklärten und glorifizierten das wilde Getümmel, sie kreuzigten die Sünder, sie bewahrten das Andenken an die Toten, begeisterten die Dummen, rüttelten die Schwerfälligen aus ihrer dumpfen Lethargie. Die Schlagzeilen lasteten schwer auf seinem Geist, erstickten seine Träume, brachen ihm das Kreuz. Nicht einen Körper schleppte er abends nach Hause, sondern eine Ansammlung von blauen Flecken. Seine Träume waren wie die einer Raupe, die noch nicht gelernt hat zu fliegen, wie die einer Schildkröte, auf deren Panzer die Wellen hämmern.
     Besser als mit einem Handtuch um die Hüften auf einem Bein zu stehen war es, Blut für die zu spenden, die es brauchten. Dazu mußte man bloß gesund sein. Wenn man gesund war, hatte man gesundes Blut, und dafür wurden erstklassige Preise bezahlt.
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