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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen
Autoren: Joyce Carol Oates
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schwerlich gehen.
    «Warum sind Sie Boxer?», wurde der irische
    Federgewichtschampion Barry McGuigan einmal gefragt.
    Er antwortete: «Weil ich kein Dichter bin.
    Ich kann keine Geschichten erzählen …»
    Jeder Boxkampf ist eine Geschichte – ein einzigartiges und bis zum Äußersten verdichtetes Drama ohne Worte. Vielleicht geschieht nichts Sensationelles: Dann ist das Drama «rein» psychologischer Natur. Boxer setzen eine Art absoluter Erfahrung in die Welt, die öffentliche Darstellung äußerster Grenzen.
    Am Ende kennt der Boxer, besser als irgendein anderer Mensch es je von sich weiß, seine körperlichen und psychischen Kräfte – er weiß, wozu er fähig ist und wozu nicht. Wenn er halb nackt den Ring betritt und sein Leben aufs Spiel setzt, macht er seine Zuschauer zu Voyeuren: Boxen ist unsagbar intim. Es bedeutet, den gesunden Menschenverstand hinter sich zu lassen und sich auf eine andere Bewusstseinsebene zu begeben, die zu benennen schwierig ist. Es bedeutet, Agonie in Kauf zu nehmen, ein Begriff, dessen Wurzel das griechische Wort agon ist: Kampf.
    Im Ring gibt es zwei Hauptakteure, die ein dritter, schattenhafter Mitspieler überwacht. Das zeremonielle Ertönen des Gongs versetzt die Boxer wie die Zuschauer in einen Zustand höchster Wachheit. Von da an unterliegt, was sich abspielt, zusätzlich dem Gesetz der ablaufenden Zeit.
    Ein Boxer bringt alles in den Kampf ein, was er ist, und alles wird sich erbarmungslos zeigen, auch das Geheimste, was nicht einmal er selbst über sich weiß: sein Körper-Ich, seine Männlichkeit, könnte man sagen, die «Schicht» unter seinem «Ich». Es gibt Boxer mit einer so außergewöhnlichen Intuition, mit einer fast unheimlichen Vorahnung, dass sich der Eindruck vermittelt, sie erlebten einen Kampf in einer Art Déjà-vu und nicht hier und jetzt vor unseren Augen. Und es gibt Boxer, die versiert, aber mechanisch kämpfen und so den Änderungen in der Strategie des Gegners nichts Eigenes entgegenzusetzen haben. Es gibt Boxer auf dem Höhepunkt ihres Könnens, die mitten im Kampf erkennen, dass sie verlieren werden. Es gibt Boxer – Weltmeister –, deren Karriere abrupt und unwiderruflich unter den Augen der Zuschauer endet. Und es gab zumindest einen Boxer, der eine außerordentliche und beunruhigende Wahrnehmungsfähigkeit besaß, mit der er nicht allein jeden gegnerischen Zug voraussah, sondern die leisesten Stimmungsumschwünge des Publikums spürte, für die er sich sichtlich persönlich verantwortlich fühlte – die Rede ist natürlich von Cassius Clay alias Muhammad Ali. «Die süße Kunst zu verletzen» 3 ist ein Hohelied auf den männlichen Körper, auch wenn es die manchmal tragischen, manchmal nur schmerzlichen Grenzen des Körperlichen dramatisch aufzeigt. Obwohl männliche Zuschauer sich mit Boxern identifizieren, verhält sich kein Boxer, sobald er im Ring ist, je wie ein «normaler» Mann, und keine Kombination von Schlägen ist «natürlich». Alles ist Stil.
    «Jede Begabung muss sich kämpfend entfalten»,sagt Nietzsche über die hellenische Zeit, 4 die eine Zeit des «Wettkampfs» war – nicht nur des athletischen, sondern des Wettkampfs als einer von vielen Formen der Erziehung, die den jungen Griechen zum Bürger machen sollte. Ohne die wilde Verbissenheit des Wettbewerbs, die «Neid, Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz» bewusst mit einschloss, entartete der hellenische Staat wie der hellenische Mensch. Der Tod ist das Risiko, aber er ist auch der Lohn – für den, der gewinnt.
    Im Ring ist der Tod, selbst in unserer sehr viel humaneren Zeit, immer gegenwärtig – weshalb manche Zuschauer es vorziehen, sich Kämpfe im Film oder als Video anzusehen, wenn sie vorbei, Geschichte geworden sind oder, in manchen Fällen, Kunst. (Ich habe mir allerdings, als ich für diesen mosaikartigen Essay recherchierte, Videos von zwei berüchtigten tödlichen Kämpfen der jüngsten Zeit angesehen: den Kampf zwischen den Bantamgewichten Lupe Pintor und Johnny Owen 1980 und den Kampf im Leichtgewicht zwischen Ray Mancini und Duk Koo Kim 1982. In beiden Fällen starben die Boxer an den Folgen ihrer erstaunlichen Zähigkeit, ihrer scheinbaren Unermüdbarkeit – ihres «Herzens», wie man in Boxerkreisen sagt.) In der Regel ist der Tod im Ring aber höchst unwahrscheinlich; eine rein statistische Möglichkeit, die mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eintritt wie der Autounfall, in den man morgen verwickelt werden kann, das Flugzeugunglück,
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