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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Europäischen Union.

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    Kann Europa noch entdeckt werden?
    Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.
    Kurt Tucholsky
     
    Die Menschen akzeptieren das demokratische Mehrheitsprinzip nur in einem Gemeinwesen, dem sie sich zugehörig fühlen.
    Joseph Weiler, Europäischer Verfassungsrechtler und Romancier
     
    Einen großen Teil dieses Buches habe ich in Brodersby geschrieben, einem Dorf mit gerade einmal 500   Einwohnern. Angeln heißt die Region im Nordosten von Schleswig-Holstein. Nach Süden hin wird sie begrenzt von Deutschlands
     einzigem Fjord, der Schlei. Der Meeresarm zieht sich nördlich der Eckernförder Bucht ins Land hinein. Geologisch ist die Schlei
     eine von einem Gletscher in der letzten Eiszeit hinterlassene Schmelzwasserrinne. Kulturell ist sie die Trennlinie zwischen
     Germanien und Skandinavien. Funktionell war sie der Geburtskanal eines frühen Weltreiches. In Haithabu, einer Siedlung am
     landseitigen Ende der Schlei, wo die Halbinsel Jütland sich zu ihrem schmalsten Punkt zwischen Nord- und Ostsee schürzt, hatten
     die Wikinger im 11.   Jahrhundert einen bedeutenden Handelsstützpunkt errichtet. Von hier aus fuhren sie die baltischen Küsten entlang und über
     die Flüsse der Ukraine bis nach Kiew, einige trieben gar Handel mit einer Hafenstadt am anderen Ende des Schwarzen Meeres.
     Miklagard, große Stadt, nannten sie das heutige Istanbul. Im Wikinger-Museum Haithabu lassen sich die Münzen besichtigen,
     die die Seefahrer in ihren Langschiffen aus Kleinasien mitbrachten.
    Auch in England fielen die kriegerischen Nordmänner ein. Wahrscheinlich ohne dies zu wissen, trafen sie dort auf ihre eigenen
     Vorfahren. Bereits ab dem 4.   Jahrhundert waren viele Angeliter nach Britannien ausgewandert. Ortsnamen wie Grimsby, Tumby, Kirksby oder Moorby zeugen noch
     heute vom ihrem Siedlungsraum in East Anglia. Mit den ebenfalls aus Germanien ausgewanderten Sachsen vereinten sie sich zu
     einem neuen Volk, den Angelsachsen. Ein knappes Jahrtausend später begaben sich ihrebritischen Nachfahren wieder in eine neue Welt, diesmal jenseits des Atlantiks. Dort, fernab vom Herrscherhaus in London wurden
     sie bald eigensinnig. Sie warfen die Truppen seiner Majestät aus dem Land und bauten sich eine Hauptstadt der Demokratie nach
     dem Vorbild Roms, mit Kapitol, Senat und einem klassizistischen Weißen Haus. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts reiste der
     Franzose Alexis de Tocqueville durch diese Völkerbaustelle, und sein Fahrtenbericht ›Über die Demokratie in Amerika‹ sollte
     zum Lehrbuch für den Liberalismus in Europa werden. Befeuert auch durch sein Gedankengut formten sich überall auf dem Kontinent
     nationale Bewegungen, die sich daran machten, die verhassten rückständigen Aristokraten von ihren Thronen zu stoßen.
     
    Sturm und Drang erfassten auch Brodersby. Jedesmal, wenn ich den Weg hinunter ins Dorf gehe, komme ich an der alten, geduckten
     Kirche vorbei. Ein gusseisernes Kreuz vor ihrem hölzernen Glockenturm erinnert an die Erhebung eines Heeres von Bauern Mitte
     des 19.   Jahrhunderts. Angeln lag zu dieser Zeit unter der Verwaltung des dänischen Königs. Von 1848 bis 1851 versuchten die Schleswig-Holsteiner,
     sich einen eigenen Bundesstaat zu erkämpfen. Nach erbitterten Schlachten, die auf beiden Seiten über 6000   Tote und Verletzte forderten, scheiterten die deutschen Nationalliberalen. Erst in einem zweiten deutsch-dänischen Krieg vierzehn
     Jahre später drängten sie mit Hilfe der Armeen von Österreich und Preußen die Dänen zurück. Einen Kilometer vor dem Ortseingang
     von Brodersby, an einer engen Stelle der Schlei, liegt die Fährstelle Missunde. Am 2.   Februar 1864 trafen hier, vom Südufer kommend, preußische Truppen auf die dänische Armee. Ein weiteres gusseisernes Kreuz
     bei der Brodersbyer Kirche erzählt, dass der »Avantageur u. Unterofficier« Lebrecht Lange bei diesem Gefecht ums Leben kam.
     Wer den Namen leise vor sich hinspricht, möchte ein bisschen schaudern. »Leb’ recht lange« war gerade zwanzig Jahre alt, als
     er starb. Neun seiner Kameraden des 7.   Brandenburgischen Infanterie-Regiments No. 60 ruhen in einem Sammelgrab neben ihm, sie sind namenlos beerdigt. Am Ende des
     Krieges siegten die Deutschen, und Schleswig-Holstein wurde eine ungeteilte preußische Provinz.
    Fünfzig Jahre später, 1914, packte der Nationalismus das ganze Kaiserreich. Jetzt fielen nicht mehr Fremde in Brodersby,
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