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Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)

Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Marlies Ferber
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Alter gewöhnt man sich halt nicht mehr so schnell an eine neue Umgebung. Er war nur drei Jahre älter als sie, aber seit seinem siebzigsten Geburtstag schien sie sich, nicht ohne einen gewissen Triumph, um mindestens ein Jahrzehnt jünger zu fühlen – als ob er sich über Nacht in einen alten Mann verwandelt hätte. Sie wirkte von hinten tatsächlich immer noch wie ein junges Mädchen, was vor allem an der schwungvollen Art lag, mit der sie sich bewegte. Er war sich nicht sicher, ob er ihr diese jugendliche Ausstrahlung gönnen sollte. Ihrem Gesicht sah man natürlich an, dass sie nicht mehr die Jüngste war, aber die Falten zeugten viel mehr von Temperament als von Alter. Als er im Bett lag und das Licht gelöscht hatte, schloss er die Augen und stellte sich eine Puppe mit Sheilas Gesichtszügen vor. Plötzlich fing diese Puppe an, sanft zu schnarchen. James knipste das Licht wieder an und lauschte. Das Geräusch kam aus Sheilas Kabine. Ihr Bett stand offenbar Kopf an Kopf zu seinem, und die Wand, die sie trennte, war dünn wie Pappe. Er beschloss, noch einen Kaffee zu trinken. Während das Koffein ihm morgens beim Wachwerden half, war es abends eine sichere Einschlafhilfe. James klingelte nach Mr Chandan. Der schlanke, schwarzhaarige Mann erschien bereits nach wenigen Minuten. »Sie wünschen, Sir?«
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige, vermutlich hätte ich mich damit an den Zimmerservice wenden sollen«, sagte James freundlich. »Ich hätte gern einen Kaffee.«
    Mr Chandan schüttelte energisch den Kopf. »Mr Watts wünscht, alle Gäste zuerst sich an mich wenden.« Er lächelte breit, und seine Zähne leuchteten hell in seinem jugendlichen Gesicht. »Tee kommt.«
    »Kaffee«, korrigierte James schnell. »Und wenn Sie mögen, würde ich mich freuen, wenn Sie zwei Tassen bringen und mir Gesellschaft leisten.«
    Zehn Minuten später kam der Kaffee. »Haben Sie Zeit, sich einen Augenblick zu setzen?«, fragte James und deutete auf den Sessel ihm gegenüber.
    »Danke«, lächelte Mr Chandan und nahm Platz. »Sie sind sehr freundlich.«
    »Aus welcher Provinz in China stammen Sie?«, fragte James.
    »Yunnan«, antwortete Mr Chandan erfreut. »Warum Sie wissen, ich bin Chinese? Alle denken, ich bin Inder.«
    »An Ihrem Akzent habe ich es gemerkt«, antwortete James auf Chinesisch. »Aber warum geben Sie sich als Inder aus? Und kleiden sich so?«
    Mr Chandan lächelte verlegen. Er wechselte nun ebenfalls ins Chinesische. Seine Stimme klang in der Muttersprache tiefer und voller, und nun, da er nicht bei jedem Satz nach Worten suchen musste, wirkte er nicht mehr unbeholfen, sondern wortgewandt und intelligent. »Mr Watts wollte eigentlich lieber einen indischen Butler haben, denke ich. Doch dann fiel seine Wahl auf mich, und er fragte, ob ich wenigstens als Dienstkleidung den Dhoti anziehen könne.«
    »Das ist keine Dienstkleidung, sondern eine Zumutung, nicht wahr«, stellte James fest. »Sie sehen wie eine jüngere Ausgabe von Gandhi aus.«
    Der Chinese winkte ab. »Gandhi war ein sehr weiser Mann, der sein Land in die Freiheit führte.«
    »Sie empfinden es also nicht als demütigend?«
    »Es ist in Ordnung für mich«, lächelte Chandan. »Und sehen Sie, das, was die Servicekräfte hier tragen, ist auch nicht viel besser. Außerdem zahlt Mr Watts gut. So kann ich meine Verwandten in China unterstützen und sehe viel von der Welt. Ich bin zufrieden, glauben Sie mir. Mr Watts hat seine Eigenheiten, aber er ist ein sehr faszinierender Mann. Ich bin stolz, für ihn arbeiten zu dürfen.«
    »Wie kam es eigentlich dazu?«, fragte James.
    »Als ich fünfzehn Jahre alt war, ist unsere Familie nach Schanghai gezogen, und ich habe studiert. Später bin ich in Mr Watts Unternehmen eingetreten, als Schiffsingenieur. Seit fünf Jahren betreibt Mr Watts eine eigene Linie im asiatisch-pazifischen Raum. Letztes Jahr kam er nach Schanghai, um betriebliche Umstrukturierungen in der Zentrale zu überwachen, und da hat er mich gefragt, ob ich sein persönlicher Assistent werden will.«
    »Einfach so?«
    »Nun ja«, sagte Mr Chandan und senkte den Kopf. Wie vielen Chinesen, dachte James, findet er es unschicklich, seinen Stolz offen zu zeigen. »Es hat vielleicht damit zu tun, dass ich in dem Jahr die Auszeichnung ›Bester Angestellter des Jahres‹ bekam.«
    »Gratuliere.«
    Mr Chandan verbeugte sich bescheiden. »Würden Sie es als ungebührlich empfinden, wenn ich Sie fragte, woher Sie so gut Chinesisch sprechen, Mr
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