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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken
Autoren: Klaus Kordon
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für Ihre Kinder das Gleiche zu bewirken.« Wie lange das Verfahren dauern werde, könne er ihnen allerdings nicht sagen. Er nehme jedoch an, bis spätestens Weihnachten alles erledigt zu haben. Wie dann die Ausreise vonstatten gehe, werde ihnen rechtzeitig mitgeteilt. »Höchstwahrscheinlich kommen Sie nach Berlin und holen die Kinder einfach ab. Wichtig ist, dass Sie Herrn Stange oder mir bald Ihre neue Adresse mitteilen.«
    »Danke.«
    »Nichts zu danken.« Noch ein freundliches Nicken und der Zaubermeister mit der bunten Krawatte nahm sich des nächsten Falles an.
    Die Grenze! Da war sie! Langsam durchquerte der Bus das Sperrgebiet und bog kurz vor den Schlagbäumen von der Autobahn ab. Auf einem zwischen Bäumen versteckten, durch einen Drahtzaun geteilten, menschenleeren Parkplatz wartete bereits der Bus mit dem bundesrepublikanischen Kennzeichen GI. Das Gepäck wurde herausgereicht, und Lenz übernahm den Koffer und eine der Taschen, die zu Hannahs Effekten gehört hatten. Vor fast auf den Tag genau einem Jahr, in Burgas, beim Aussteigen aus dem Zug, hatte er die Gepäckstücke das letzte Mal in der Hand gehalten.
    Im Gänsemarsch ging es durch die von einem Grenzposten geöffnete Tür im Zaun zu dem Gießener Bus. Das Gepäck wurde eingeladen, drinnen setzten sich alle auf die Plätze, die sie auch in dem ersten Bus eingenommen hatten. Die beiden Rechtsanwälte stiegen zu; der Begleitoffizier und der Busfahrer waren hinter dem Zaun zurückgeblieben. Hier saß ein kleiner, dicklicher Herr neben dem Fahrer. Er trug ein farbenfrohes Hemd zur grauen Hose und bewachte ein paar Kartons mit bunt verpackten Fressalien. Langsam, sehr langsam fuhr der Bus auf die Grenze zu. Ein mit Maschinenpistole bewaffneter Grenzer stand neben dem offenen Schlagbaum und sah neugierig zu ihnen hoch. Fast hätte Lenz ihm zugewinkt. Der sah ja aus, als würde er ihn von Altwarp, Banzin oder Pragsdorf her kennen. Wer sagte denn, dass er nicht gern mitgefahren wäre?
    Weitere offene Schlagbäume, Ampeln – alle auf Grün geschaltet –, Betonblöcke, Baracken, Leitplanken. Masten mit Scheinwerfern ragten in den Himmel, Grenztürme erhoben sich über die weitläufige Anlage, die ein einziges Sperrwerk darstellte. Vor der Kontrollstelle viele wartende PKW – innerhalb von Sekunden war der Bus an ihnen vorübergerauscht.
    Jubel brandete auf und es wurde Beifall geklatscht. Einige sprangen auf und umarmten einander, andere weinten still. Der dickliche Herr neben dem Fahrer legte eine Kassette ein; Tony Marshall: »Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit – hojahojahooo!«

Notwendige Nachbemerkung
    Hannah und Manfred Lenz reisten im August 1973 aus der DDR aus. Zu jener Zeit war die Tätigkeit des OstBerliner Rechtsanwalts Dr. Wolfgang Vogel noch eines der bestgehüteten deutsch-deutschen Geheimnisse. Und dies, obwohl die ersten Häftlingsfreikäufe bereits Anfang der Sechziger stattgefunden hatten.
    Die Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen, in den achtziger Jahren von Zehntausenden von Ostdeutschen trotz aller über sie verhängten Repressalien genutzt, gab es Anfang der Siebziger noch nicht. Man musste durch eine Tat beweisen, dass man mit dem Staat gebrochen hatte. Und zumeist erfuhr man erst in den Gefängnissen – durch informierte Mithäftlinge – von der Chance, nach einem Ausreiseantrag von der Bundesrepublik freigekauft zu werden.
    Insgesamt, so wird geschätzt, wurden in den vierzig Jahren des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik etwa eine Viertelmillion Menschen aus politischen Gründen inhaftiert; neunhundertsechzig kamen an der deutsch-deutschen Grenze ums Leben.
    Die Häftlingsverkaufsaktionen des Ministeriums für Staatssicherheit wurden von den Grenzbehörden der DDR unter der Tarnbezeichnung »Kartoffelkäfer« registriert – wegen der gelben Streifen an der Häftlingskleidung, die die »Käfer«, wenn sie in Bussen über die deutsch-deutsche Grenze gebracht wurden, allerdings nicht mehr trugen. Nach Dr. Vogels Angaben hat er bis 1989 etwa zweihundertfünfzigtausend Fälle von Ost-West-Familienzusammenführungen bearbeitet und vierunddreißigtausend politischen Häftlingen zur Ausreise aus der DDR verholfen. Mehr als drei Viertel dieser »Familienzusammenführungen« wurden allerdings erst in den letzten Jahren des inzwischen marode gewordenen DDR-Staates möglich, als immer wieder Tausende von DDR-Bürgern in ausländische Botschaften oder die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland
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