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Justiz

Justiz

Titel: Justiz
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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psychiatrischen Klinik am Bodensee verbracht, zwar unter losen polizeilichen Vorschriften, aber betreut von dem mit ihm eng befreundeten Professor Habersack. Bewegung war erlaubt, der Caddie beim Golf war der Dorfpolizist. Endlich vor Obergericht, wies Kohler jede Begünstigung von sich, verlangte »wie ein Mann aus dem Volke behandelt zu werden«. Bezeichnend gleich der Beginn der Verhandlung. Der Dr. h.c. war erkrankt, Grippe, das Thermometer kletterte auf 39 Grad, er wies jede Verschiebung ab, weigerte sich, im Gerichtssaal in einem Krankenstuhl Platz zu nehmen. Den fünf Oberrichtern erklärte er (Protokoll): »Ich stehe hier, damit ihr nach eurem Gewissen und nach dem Gesetz Recht über mich sprecht. Ihr wißt, wessen man mich beschuldigt. Gut. Nun ist es an euch zu richten und an mir, mich eurem Urteilsspruch zu unterwerfen. Ich werde ihn als gerecht anerkennen, wie er auch ausfalle.« Nach dem Urteilsspruch dankte er bewegt, hob besonders die Menschlichkeit hervor, mit der er behandelt worden sei, dankte auch Jämmerlin. Man hörte sich den Erguß eigentlich mehr belustigt als gerührt an, allgemein herrschte der Eindruck, mit Dr. Isaak Kohler habe die Justiz ein ausgefallenes Exemplar eingefangen, und als er abgeführt wurde, schien der Vorhang über eine zwar nicht ganz erhellte, aber doch eindeutige Affäre endgültig zu fallen.
    Über mich, damals und heute: Dies in allgemeinen Zügen die Vorgeschichte, enttäuschend, ich weiß, ein Ereignis, das der Tag liefert, merkwürdig bloß für die Beteiligten und für die näher Informierten, ein Grund zum Klatsch, zu mehr oder weniger faulen Witzen und zu einigen moralischen Betrachtungen über die Krise des Abendlandes und der Demokratie, ein Kriminalfall, von den Gerichtsreportern pflichtbewußt berichtet und vom Chefredaktor unseres weltberühmten Lokalblatts (ein Freund Kohlers) mit landesüblicher Würde kommentiert, ein Gesprächsstoff für wenige Tage, kaum daß er wesentlich über die Grenzen unserer Stadt zu 30
    dringen vermochte, ein Provinzskandal, der mit Recht bald vergessen worden wäre, wenn sich nicht hinter ihm ein Plan verborgen hätte.
    Daß ich in diesem Plan eine entscheidende Rolle spielen sollte, ist mein persönliches Pech, wenn ich auch zugebe, von Anfang an Böses geahnt zu haben. Doch muß ich hier etwas über meine Verhältnisse nach dem Prozeß gegen Kohler einfügen. Sie waren schon damals nicht mehr ganz erfreulich. Ich hatte nun doch versucht, mich selbständig zu machen, und in der Spiegelgasse über dem Vereinssälchen der Heiligen vom Uetli, einer frommen Sekte, ein Büro bezogen, einen gegen die drei Fenster hin abgeschrägten Raum mit einigen vor einem Möbel-Pfister-Schreibtisch gruppierten Sesseln, mit ›Beobachter‹-Farbdrucken an den Wänden, über deren Tapete ich lieber schweigen möchte, und mit einem noch nicht funktionierenden Telefon, ein Verschlag, der dadurch entstanden war, daß der Hausbesitzer die Wand zwischen zwei Mansarden hatte niederreißen und eine der beiden Türen hatte zumauern lassen. In der dritten Mansarde hauste der Prediger und Gründer der Uetli-Sekte, Simon Berger, der aussah wie Niklaus von der Flüe und mit dem ich das Klo im Korridor teilte. Zwar lag mein Büro überaus romantisch, Büchner und Lenin hatten in der Nähe gewohnt, und die Aussicht auf die Kamine und Televisionsantennen der Altstadt erweckte Bewunderung, Vertrautheit, heimatliches Kleinstubengefühl und Lust zum Kakteenzüchten, doch war sie für einen Rechtsanwalt denkbar ungeeignet, nicht nur verkehrstechnisch, auch sonst ließ sich die Bude kaum aufstöbern: kein Lift, steile knarrende Treppen, ein Genist von Korridoren. (Nachzutragen: Damals lag dieses Büro ungünstig, hatte ich doch noch Ambitionen, wollte ich doch noch Fuß fassen, vorankommen, ein braver Bürger werden, heute, für den vergammelten Hurenspezialisten, der ich nun einmal geworden bin, erweist sich der Verschlag gar als ideal, auch wenn der Platzmangel durch den Einbau einer Couch beängstigend geworden ist, schlafe, beischlafe, wohne, ja koche ich doch nun auch hier, nachts von den Psalmen der Heiligen vom Uetli umdröhnt, »halte Einkehr, Mensch und Christ, rette deine Seele, und was sonst zu retten ist, werde ohne Fehle«; Lucky wenigstens, der Beschützer der Dame mit dem bemerkenswerten Wuchs und dem einheimischen Metier, der eben 31
    teils aus Neugier, teils aus geschäftlichen Sorgen heraus vorsprach und auch sonst die Lage sondierte, schien
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