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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern
Autoren: Leon Garfield
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wie viele es einmal gewesen waren.
    Ich glaube, etwa vierzig, von denen nicht einer –
    nicht einer, soviel ich weiß – diese letzte Misere überlebt hat, die aus dem Sturm geboren war.
    Das Schiff war von Piraten gekapert.
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    II
    Wir leben in einer bösen Welt, in der Piraten und ihresgleichen naturgegeben sind. Es heißt jedoch, daß die meisten von ihnen recht arme Teufel von nicht allzu großer Bosheit und nicht sehr gewillt sind, ihre Seelen mit Mord zu beladen. Aber in und unter diesen plündernden Lämmern jagen die furchtbaren Wölfe –
    Mannschaften so tief in Verdammnis, daß sie über die gesamte Seefahrt einen schwarzen Schatten werfen,
    denn sie segeln unter dem Zeichen des Teufels und ih-re Schiffe riechen nach Blut. Es war eine solche Crew, die die Charming Molly geentert hatte.
    Es war schon beinahe dunkel, als sie mich aus
    meinem Laderaum heraushoben, die Sonne ging vor-
    aus nach Steuerbord unter und färbte den Himmel so
    rot wie das Deck. Ich erregte kein großes Aufsehen, als ich kam, nicht mehr als sechs Mann wandten sich um und starrten, als sei ich der letzte Gang einer
    Mahlzeit, die sie beendet wähnten. Ihre Gesichter
    waren mehr ermattet als böse und schwarz von viel-
    tägigen Bärten. Sie trugen zerlumpte und schmutzige Kleidung und sahen gegen das riesige und glänzend
    weiße Segel der Charming Molly noch schmutziger
    aus, denn sie waren bereits im Takelwerk und auf
    den Rahen und überall über das ganze Schiff, mit suchenden Händen und Augen, die forschten, ob ihr
    Fang sich lohnte. Die kräftige Brise, die über das
    Deck wehte, schien mir direkt durch den Kopf zu
    fahren und mich betrunken zu machen, daher sah ich
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    zwei Mann für einen und acht für vier, und ich konn-te mich nirgends hinwenden, um Gnade zu erflehen
    oder zu fliehen.
    Dann kam ein kleiner Mann geradewegs vom Ach-
    terdeck heruntergestiegen, um mich näher zu betrachten. Ich hielt ihn für den Kapitän, denn er hatte eine sehr knappe Sprache und wäre elegant erschienen,
    wenn er nicht etwas schimmelig ausgesehen hätte,
    weil seine Kleidung immer nur an seinem Leibe
    trocknete. Er begann mich mit Musketenfeuerge-
    schwindigkeit zu befragen, und nickte bei jeder Antwort eifrig, als schnippte er alles an seinen rechten Platz … Antworten, die ihm meinen Stand und Zustand, Lehre und Geschäft und meinen Namen er-
    zählten – er zog bei »Holborn« die Augenbrauen
    hoch und ließ sie bei »Jack« wieder runter.
    »Holborn Jack?« (Ein höchst berüchtigter Halunke
    in jenen Tagen.)
    »Nein, Sir: Jack Holborn. Zu Ehren des Kirch-
    spiels.«
    Er fragte mich auch nach meinem Alter – aber da
    hatte er mich. Ich sagte »Vierzehn« und hoffte, es sei ein Alter, das ihm zusagte.
    Nach meinem Geisteszustand brauchte er nicht zu
    fragen, der prägte sich genügend in meinem Gesicht
    aus: Entsetzen. Das schien ihm zu gefallen, denn er meinte, die Dankbarkeit dafür, daß man mein Leben
    verschont hatte, würde mich so manche Arbeit tun
    lassen, die zu niedrig war für die, die lebten, aber da-für keinen Dank wußten.
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    Zur Eröffnung mußte ich daher, obwohl die Nacht
    schon fast hereingebrochen war, erst einmal das
    Hauptdeck reinigen: denn, sagte der kleine Mann,
    von dem Blut drohe große Gefahr; jemand könne
    darauf ausrutschen und sich ein Bein brechen, oder
    schlimmeres …
    Ich schlief die Nacht in der Kombüse, dem einzigen
    Ort, wo man mich bewillkommnete. Denn dem Koch
    schien es lohnend, mich mit einem Happen Schweine-
    fleisch und einem Becher abgestandenem Wasser am
    Leben zu halten. Er hatte gesehen, daß ich zum
    Schrubben Talent hatte, und es wäre schade, das
    durch einen frühen Tod einzubüßen.
    »Du bist schwach und mickrig, Junge«, sagte er.
    »Pobjoy wäre böse, wenn du uns hier einfach weg-
    stirbst.«
    Irgendwie half mir dieser schlechte alte Mann –
    wahrscheinlich, weil er mich für meine Unverschämt-
    heit, noch am Leben zu sein, nicht ermorden wollte –
    wesentlich, meine Geister wieder zu sammeln. Ich
    hielt ihn sogar für einen Freund …
    »Gott erhalte uns«, sagte ich. »Ich würde nichts
    dergleichen tun, um Mister Pobjoy zu ärgern! Schneiden Sie uns daher noch ein Stückchen Schweinefleisch runter!«
    »Nein, mein lieber Junge, du würdest ’s doch nur
    wieder rauskotzen. Und das wäre eine schlimme Ver-
    schwendung. Pobjoy kann Verschwendung nicht lei-
    den.«
    Mr. Pobjoy verrecke! dachte ich, denn das kleine
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    bißchen Fleisch, das in meinen Bauch gelangt
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