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Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)

Titel: Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
Autoren: Janine Kunze
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alles war.
    Die Frau, die gestorben war, war nett gewesen, aber nicht sehr präsent. Sie hatte wenige Wünsche gehabt, war aber auch nicht besonders herzlich zu uns Schwestern gewesen.
    Als der Körper der Verstorbenen aus dem Krankenzimmer gebracht worden war, half ich der Stationsschwester und einer älteren Kollegin beim Bettenbeziehen. Die ältere Schwester war heute wie ich den ersten Tag nach dem Urlaub wieder auf Station. Sie fragte: »Hat schon jemand die Angehörigen verständigt?«
    Die Stationsschwester faltete ein Bettlaken auseinander und schüttelte den Kopf. »Keine Angehörigen«, sagte sie routiniert, aber auch ein wenig traurig.
    Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Keine Angehörigen. Ich hatte selbst nie mitbekommen, dass die alte Frau Besuch bekam, aber dass sie gar keine Familie mehr hatte, hatte ich nicht gewusst. Doch so war das eben manchmal bei alten Leuten. Daran würde ich mich gewöhnen müssen als Krankenschwester. Was war nur mit mir los? Ich konnte ja nicht bei jedem traurigen Fall gleich heulen. Ich stopfte energisch die schmutzige Wäsche in einen Sack. Dann hatte ich mich wieder gefangen.
    Abends saß ich in meinem neuen Appartement auf dem Bett und las einen Brief von der Krankenpflegeschule mit dem Dienstplan für das nächste Vierteljahr. Ab nächster Woche würde ich auf die Geburtsstation wechseln. Ich freute mich darauf, hatte aber auch Respekt vor all der Dramatik, die dort auf mich wartete. Die Mädchen aus dem zweiten Lehrjahr hatten schon jede Menge Geschichten erzählt.
    Mein Blick fiel auf die Adresszeile. Janine Schuster, Appartement304, stand da. Ich schaute mich um. Ich hatte noch ein paar Sachen von zu Hause mitgebracht, die Möbel umgestellt und außer den Postern aus meinem alten Wohnheim-Zimmer noch ein paar neue aufgehängt. Mein Zimmer sah wirklich fast wie eine Wohnung aus und nicht wie eine Wohnheim-Unterkunft. Jetzt hatte ich mein eigenes Zuhause und mein eigenes Leben. Noch drei Monate und ich war auch auf dem Papier endlich erwachsen und unabhängig.
    Unabhängig – im Sommer hatte dieses Wort noch Begeisterungsstürme in mir ausgelöst. Ich merkte überrascht, dass sich etwas verändert hatte. Unabhängig. Jetzt fühlte es sich…seltsam an. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas fehlte. Aber ich kam nicht darauf, was.
    Ich musste an die alte Frau von heute Morgen denken. Ich hatte keine Ahnung, ob ich jemals so alt werden würde wie sie. Und wenn ja, hatte ich bis dahin bestimmt einen Mann und viele Kinder, die mich besuchen kommen würden. Ob dieser Mann Thomas sein würde?
    Mama und Papa würden dann schon lange nicht mehr leben. Das war eine komische Vorstellung und ich schüttelte sie sofort wieder ab.
    Keine Angehörigen. Es war völlig verrückt, denn ich hatte nichts mit dieser Frau gemeinsam. Trotzdem hatten sich die beiden Worte in meinem Kopf festgesetzt. Um mich abzulenken, nahm ich den Brief von der Krankenpflegeschule wieder in die Hand. Mal nachsehen, an wie vielen Wochenenden ich Dienst hatte im nächsten Monat. Ich blieb wieder an der Adresszeile hängen. Und las erneut meinen Namen, Janine Schuster.
    Plötzlich wurde mir klar, warum ich mich so komisch fühlte. Warum ich das Gefühl nicht loswurde, dass etwas fehlte. Ich war gar nicht Janine Schuster! Der Name meiner Familie war Kunze. Deshalb sollte ich eigentlich Janine Kunze heißen. Ich gehörte zu ihnen, das waren meine Angehörigen, die Menschen, die da sein sollten, wenn es mir mal schlecht ging, und für die ich da sein wollte, wenn es ihnen schlecht ging.
    Auf dem Papier hatte ich immer noch nicht die richtige Familie. Ich hatte eine Entscheidung, die ich schon lange getroffen hatte, immer noch nicht durchsetzen können.
    Das musste ich jetzt endlich ändern. Man hatte mir diese Entscheidung vor Jahren verweigert. Aber in drei Monaten konnte mir niemand mehr etwas verweigern. Ich würde ein Zeichen setzen.
    Ein warmes Gefühl durchfloss mich und ich musste lächeln.

Ganz werden
    Ganz sein, nicht fragmentiert in unseren Handlungen, im Leben, in jeder Art von Beziehung, das ist das eigentliche Wesen geistiger Gesundheit.
    JIDDU KRISHNAMURTI
    Die restliche Woche dachte ich viel nach. Seitdem unser Adoptionsversuch damals so kläglich gescheitert war, hatte ich gewusst, dass man sich auch als Erwachsener noch adoptieren lassen konnte. Damals war mir das ziemlich sinnlos vorgekommen, denn zu der Zeit ging es uns vor allem darum, dass meine Eltern endlich das Sorgerecht für
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