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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha
Autoren: Robert Menasse
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war hinaufgerutscht. Ich sah, dass sie keine Strumpfhose anhatte, sondern Strümpfe. Ja, sagte ich. Schau dir das an, sagte sie. Ja.
    In der einen Schachtel befanden sich Ausschnitte und Belege der Artikel meines Vaters aus den Anfangszeiten seiner Arbeit bei der Zeitung. Fein säuberlich ausgeschnitten und in Klarsichtfolien gesteckt. Obenauf einige Zeitungsseiten, mit Artikeln von Vater, aber nicht mehr ausgeschnitten und in Klarsichtfolie geschoben. Er hatte die Geduld verloren. Und schließlich aufgehört, sich selbst zu dokumentieren.
    Willst du das aufheben?, fragte Martha.
    Nein, sagte ich, das ist alles ohnehin im Archiv der Zeitung.
    In der anderen Schachtel befanden sich Zeitschriften aus den dreißiger Jahren, fast vollständig die Jahrgänge 1934 und 1935 des »Wiener Magazin«. Das musste er als Kind gelesen und angeschaut haben (wie alt ist er damals gewesen? Acht und neun), oder seine Eltern, meine Großeltern, und er hatte sie gesammelt und aufgehoben. Warum? So wie andere ihre Kinderbücher aufheben? Hatte mein Vater Kinder- und Jugendbücher gehabt? So wie ich Karl May und Erich Kästner hatte, Karl Bruckner und Werner Bergengruen? Bergengruens »Zwieselchen« ist in den dreißiger Jahren geschrieben worden, aber als vorbildliches Jugendbuch noch in den sechziger Jahren in jedem Kinderzimmer gelegen, in meiner Volksschulzeit. Ich wusste es nicht. Vater hatte nie darüber gesprochen. Er hatte geschrieben, aber was hatte er gelesen? Warum hatte er das »Wiener Magazin« aufgehoben? Sentimentalität? Weil ihn das geprägt hatte? Die Pin-ups, die Aktfotos – Titelseiten vom »Studio Manasse«, Manasse war der erste Aktfotograf von Wien, so berüchtigt wie Bettauer. Aber es gab auch Literatur im »Wiener Magazin«, Erzählungen von Egon Erwin Kisch, Mathilde Osso (? Neben ihrem Namen stand: »Trägerin des Balzac-Preises«), Gedichte von Theodor Kramer und Albert Paris Gütersloh. Witze. Aphorismen, Artikel über Schauspielerinnen. Im Grunde war das »Wiener Magazin« ein Vorläufer von »Playboy«. Ich blätterte in den Zeitschriften, im Augenwinkel die Beine von Martha, die schwarzen Streifen, wo ihre Strümpfe endeten. »Inge Hartl, ein neuentdeckter Filmstar. Photo Manasse.« Ich stellte mir vor, wie glücklich Inge Hartl gewesen war, als dieses Heft erschien (Februar 1934), wie sie sich huldigen ließ im Kaffeehaus, von Männern, die genauso vergessen sind wie sie. Auf den Straßen wurde gekämpft, der faschistische Ständestaat ließ auf die Gemeindebauten Wiens schießen, und Frau Hartl dachte, jetzt werde sie berühmt. Wie muffig diese Zeitschriften rochen! Und doch: wie eigentümlich frisch sie waren! Sie erschienen mir so vertraut, als wäre dieses »Gestern« buchstäblich gestern gewesen.
    Ich glaube, das können wir wegwerfen, sagte Martha. Wer sammelt schon Altpapier, außer die Altpapiersammelstelle?
    Nein, warte!, sagte ich.
    Diese Zeitschriften mussten noch lange zu Hause herumgelegen haben, in meiner Kindheit, wie nahe, wie vertraut, wie selbstverständlich sie mir waren, näher als ein BRAVO-Heft aus den siebziger Jahren. Das war eine Ästhetik, die hatte in meiner Kindheit noch geherrscht, das Herrschen war noch nicht so schnelllebig damals. Die Sofas, auf denen sich die Mädchen im »Wiener Magazin« räkelten. Es gab solche Sofas noch, solche Möbel in meiner Kindheit, so ein Sofa stand im Wohnzimmer meiner Mutter. Da ist ja nur ein Krieg gewesen zwischen diesen Fotos und meiner Kindheit, und dieser Krieg hat vieles zerstört, nicht alles, mehr Menschen als Möbel, und danach war man froh gewesen, wenn man irgendetwas hatte, und man hatte nur die Dinge, die nicht zerstört worden sind, solche Möbel zum Beispiel, dieses Sofa. Und solche Frauen. Die Frauen, die nach dem Krieg trotzig und unschuldig für ein junges Leben posierten, schüttelten die Nazi-Mutterkreuzästhetik ab, und zum Vorschein kamen zeitverschoben nochmals diese Dreißiger-Jahre-Schönheiten. Es war eine Ästhetik, die ich noch in meiner Jugendliteratur wiederfand, in den Illustrationen der Bruckner- und Kästner-Romane – das alles war schon damals nicht mehr wahr. Es war nur noch wirklich.
    Glaubst du, man kann das verkaufen?
    Nein, ich will es haben. Ich will das behalten.
    Ich ließ mich zurücksinken, streifte die Schuhe ab, sah zu Martha auf.
    Willst du, sagte sie, sie hatte plötzlich eine raue Stimme, willst du etwas essen? Ich habe Käse und Wein.
    Hast du noch die Wimpern?
    Die Wimpern?
    Ja. Würdest du
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