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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Autoren: Gaétan Soucy
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wieder tun. Der Hauptmann nickte und stieg auf den Sitz. Mit großem Radau setzte sich der Feuerwehrwagen in Bewegung, entfernte sich in Richtung der Fabriken, und wenig später herrschte wieder Stille. Eine geräuschvolle, hörbare Stille wie kurz nach dem Verschwinden einer Erscheinung.
    * * *
    »Aha! Ich habe es gewusst!«, jubilierte Séraphon. »Du verschweigst mir etwas! Was hast du da aufgehoben? Du hast esmit hergebracht, wie? Los! Zeig, was es ist …! Hörst du? Na, los jetzt!«
    Auf den Ellbogen gestützt, starrte Remouald zur Decke. Seine Reaktion beschränkte sich auf eine achtlose, gelangweilte Handbewegung, so wie eine Kuh schwanzwedelnd Fliegen vertreibt. Aber Séraphon blieb beharrlich. Remouald zur Aufgabe zu zwingen war sein Lieblingssport. Es war, als würde er ihn am Spieß braten; die Schwarte wurde langsam rissig und gab ein langes Pfeifen von sich: Gleich würde Remouald singen. Séraphon konnte den freudigen Moment kaum erwarten. Doch dann geschah etwas Außergewöhnliches. Séraphon verstummte. So hatte er seinen Sohn noch nie gesehen. Remouald war aufgestanden. Mit aufgerissenen Augen kam er auf ihn zu, von blankem Entsetzen getrieben. Verwirrt warf Séraphon den Kopf nach hinten. Sein Sohn hob ihn hoch wie einen Sack Kartoffeln, durchquerte den Flur, wäre fast über Besen und Eimer gestolpert, trug ihn bis zum Bett, riss wutentbrannt die Decken herunter und ließ den entgeisterten Séraphon auf die Matratze plumpsen.
    Außer Atem und selbst erstaunt über das, was er gerade getan hatte, kehrte Remouald in die Küche zurück. Er löschte die Lampe, damit ihn niemand beobachten konnte, und ging zur Anrichte. Seine Hand tastete nach der Schnapsflasche. Er schlotterte. Er setzte sich wieder an den Tisch. Aus dem Schlafzimmer war Séraphons Schluchzen zu hören. Er hielt sich mit den Fäusten die Ohren zu.
    In dieser Nacht schlief er sehr spät ein und hatte einen Traum.
    Die Bewohner des Viertels bildeten eine Kette um das Brandgelände. Darunter waren der Bankdirektor, seineSekretärin und die Leute aus dem Warenhaus. Sie beobachteten Remouald mit fröhlich grimmigem Blick. Remouald war in Begleitung eines Mädchens, das er nicht kannte. Sie standen beide über einen Hut gebeugt, in dem ein männliches Geschlecht schlaff mit der Eichel baumelte wie ein kleines, wundes Tier ohne Augen, das gerade zur Welt gekommen ist. Ein Feuerwehrmann kam und blies in einen Dudelsack. Aus der Jagdtasche an seinem Gürtel lugte ein Hasenkopf, der mit der Stimme eines Kindes sprach. Er fragte Remouald, was er denn mit dem Mädchen treibe und was da in seinem Hut versteckt sei. Remouald wusste, dass er ihm antworten musste, aber er war völlig verängstigt. Der Feuerwehrmann brach in Lachen aus und trug das Mädchen unter dem Arm davon. Remouald dachte bang: »Er gibt ihr den Hasen zu essen.« Das durfte nicht passieren. Während der Feuerwehrmann sich entfernte, sah der Hase flehentlich zu Remouald. Die Menge applaudierte wie im Theater. Remouald rannte zum Feuerwehrmann und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Feuerwehrmann wollte nicht stehenbleiben. Remouald packte ihn an seinem roten Haarschopf und unterdrückte einen Schreckensschrei: Er hielt den abgerissenen, fratzenhaft verzogenen Kopf des Feuerwehrmanns in den Händen. Die Zuschauer buhten und warfen mit Aschenbechern. Sie glitten von allen Seiten zur Brandstelle hinab und kamen mit drohender Miene auf ihn zu. Der enthauptete Körper rannte weiter, als wäre nichts geschehen. Remouald wachte schweißgebadet auf.
    Er bemerkte, dass er länger als gewöhnlich geschlafen hatte und möglicherweise zum ersten Mal in fünfzehn Jahren zu spät zur Arbeit kommen würde … Die Uhrzeit machte ihm weiter keine Sorgen. Hinten in ihrem gemeinsamen Bettmurmelte Séraphon vor sich hin, wimmerte in seinen Greisenträumen. Dicke Schneeflocken wehten schräg am Fenster vorbei.
    Remouald kniete sich vor die Kommode und öffnete vorsichtig die mittlere Schublade. Er suchte etwas unter den Hemden, wobei er immer wieder zu seinem Vater hinüberschaute, um sich zu vergewissern, dass er noch schlief. Er holte das Marienbild hervor, das er am Vorabend dort versteckt hatte. Das Holz verströmte Brandgeruch. Er lehnte das Bild an die Wand. Mit gefalteten Händen, die Fingernägel ins Fleisch gepresst, betete Remouald Tremblay mit einer Hingabe, die er verloren geglaubt hatte. So weit lag dies zurück, dass er nicht mehr wusste, wie Tränen schmeckten, nach Salz,
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