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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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Schmutz und das Elend der Armen einen Satan herangezüchtet hat. Diese Schmierfinken haben sich doch nie zuvor für den Osten von London interessiert. Es braucht einen frei rumlaufenden Irren, um die Oberklasse dazu zu bringen, von Whitechapel überhaupt Notiz zu nehmen. Und jetzt schwafeln sie davon, einen Zaun aufzustellen, um den Mann hier einzusperren, damit er nicht in den Westen rübermarschieren und die feinen Leute belästigen kann.«
    »Das passiert nicht«, erwiderte Roddy. »Der Bursche geht nach einem festen Muster vor. Er sucht sich immer den gleichen Frauentyp aus – betrunken und abgewrackt. Er bleibt in Whitechapel, das er kennt wie seine Westentasche. Er taucht auf wie ein Gespenst. Ein brutaler Mord passiert, und niemand hat was gesehen oder gehört.« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Ich werd ihren Anblick nie vergessen.«
    »Roddy, mein Lieber«, sagte Kate anteilnehmend, »iß was. Du brauchst ein bißchen was im Magen.«
    »Ich glaub nicht, daß ich was runterbringe. Ich hab überhaupt keinen Appetit.«
    »Mann, das ist schrecklich«, sagte Fiona erschauernd. »Die Bucks Row ist gar nicht weit weg von hier. Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man darüber nachdenkt.«
    Charlie schnaubte. »Wieso machst du dir denn Sorgen? Er hat’s nur auf Dirnen abgesehen.«
    »Sei still, Charlie«, sagte Kate gereizt. Reden über Blut und Eingeweide bei Tisch. Jetzt auch noch über Dirnen.
    »Mein Gott, bin ich müde«, sagte Roddy. »Ich hab das Gefühl, ich könnte eine Woche schlafen, aber ich muß zur gerichtlichen Untersuchung heut abend.«
    »Geh rauf und ruh dich aus«, sagte Paddy.
    »Ja, das tu ich, glaub ich. Hebst du mir mein Essen auf, Kate?«
    Kate versprach es. Roddy streifte seine Hosenträger und sein Unterhemd ab, wusch sich schnell und ging dann nach oben.
    »Armer Onkel Roddy«, sagte Fiona. »Was für ein Schock das für ihn gewesen sein muß. Wahrscheinlich braucht er Jahre, um darüber wegzukommen.«
    Ich hoffe, sie fassen ihn, bevor er noch jemanden umbringt, dachte Kate. Sie sah durch die Diele zur Eingangstür. Genau jetzt ist er dort draußen. Vielleicht schläft er oder ißt in einem Pub wie jeder andere. Vielleicht arbeitet er in den Docks. Vielleicht wohnt er bloß zwei Straßen entfernt. Vielleicht geht er nachts an unserem Haus vorbei. Obwohl ihr vom Kochen warm war, begann sie plötzlich zu frösteln.
    »Ich frage mich, ob der Mörder …«, begann Charlie.
    »Um Himmels willen, Schluß jetzt!« zischte sie. »Iß dein Essen auf, das ich für dich gekocht hab.«
    »Kate, was ist denn los?« fragte Paddy. »Du bist ja kreidebleich.«
    »Nichts. Ich wünschte bloß … dieses Monster würde verschwinden. Wenn sie ihn doch schon gefaßt hätten.«
    »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Kein Mörder stellt dir oder irgend jemandem aus unserer Familie nach«, sagte Paddy beruhigend und nahm die Hand seiner Frau. »Nicht solange ich hier bin.«
    Kate zwang sich zu einem Lächeln. Wir sind sicher, sagte sie sich, wir alle. In einem festen Haus mit starken Schlössern. Sie wußte, daß sie stark waren, weil Paddy sie überprüft hatte. Ihre Kinder schliefen ruhig in der Nacht, weil ihr Vater im oberen Stockwerk war, und Roddy auch. Kein Unhold käme herein, um irgendeinem von ihnen etwas Böses anzutun. Aber dennoch hatte Fiona recht. Es jagte einem einen kalten Schauder über den Rücken. Das Blut gefror einem, wenn man daran dachte.
     
    »Äpfel! Schöne Äpfel! Die schönsten von London! Vier für einen Penny!«
    »Muscheln, frische Muscheln!«
    »Schöne Heringe? Frisch aus dem Wasser! Noch springlebendig!«
    Jeden Samstagabend war es das gleiche: Noch bevor sie am Markt angekommen waren, konnten sie von weitem die Rufe der Händler hören. Sie ertönten von Ständen und Obstkarren, schallten über Dächer und durch Gassen.
    »Die beste Petersilie, meine Damen! Kaufen Sie meine herrliche Petersilie!«
    »Orangen, zwei Stück ein Penny! Groß und saftig!«
    Doch über den vertrauten Geräuschen des Markts erhob sich nun noch etwas anderes: ein unheimlicher Ruf, bei dem die abendlichen Marktbesucher ihre Schritte beschleunigten, um rasch an den häuslichen Herd zu kommen und die Türen hinter sich zu verriegeln. »Wieder ein schrecklicher Mord«, rief ein zerlumpter Zeitungsjunge. »Nur im Clarion! Das Allerneueste! Bilder vom Tatort, überall Blut! Die neuesten Nachrichten im Clarion!«
    Als sie in die Brick Lane einbogen, nahm Fionas Erregung zu. Sie waren am
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