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Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Titel: Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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völlig in Ordnung«, sagte Mae.
    Gibbs erschien im Türrahmen und Charlottes Herzschlag beschleunigte sich. Die Nadel rutschte ihr aus der schweißnassen Hand. Sie legte das Stopfzeug beiseite und rieb ihre Handflächen an ihrem Rock trocken. Wenn dieser Mann sich nicht schicklich verhielt, würde sie ihm gründlich die Meinung sagen. Dass sie einmal einen Fehler gemacht hatte, hieß nicht, dass sie noch einen zweiten machen würde. Sie atmete tief ein, aber es half nichts, sie wurde nicht ruhiger. Sie fühlte sich verletzlich, verlassen von allen, die ihr hätten helfen können.
    Gibbs kam zu ihr herüber und wieder holte Charlotte tief Luft. Das Gesicht der Frau war eine Maske gleichgültiger Tüchtigkeit, doch Charlotte meinte, eine dunklere Empfindung dahinter wahrzunehmen. Zorn? Ärger? Hatte sie, Charlotte, etwas Falsches getan? Als Gibbs an ihrem Tisch stehen blieb, stand sie auf.
    »Sie können weiterarbeiten, Miss Smith. Dr. Preston wurde … plötzlich abberufen und kann Sie heute Morgen nicht untersuchen. Wir haben den Termin auf morgen verschoben.«
    »Oh, ich verstehe«, hauchte Charlotte. »Danke.«
    Gibbs machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder in Richtung der Büros. Charlotte sank auf ihren Stuhl zurück und fühlte sich törichterweise zutiefst erleichtert. Sally zwinkerte ihr von der anderen Seite des Tisches zu.

    Während sie mit ihrer Arbeit fortfuhr, dachte Charlotte an ihre Mutter, die in den letzten Jahren ihres Lebens einen Großteil ihrer Zeit in der Gesellschaft von allen möglichen Ärzten verbracht hatte. Sie hatte sich gut mit ihnen verstanden und keinerlei Angst vor ihnen gehabt. Der würdevolle Dr. Webb, ein freundlicher und geachteter Arzt, hatte sie so oft besucht, dass er fast schon ein Freund der Familie geworden war. Das Einzige, was Charlotte von seiner Seite aus gefürchtet hatte, war eine schlechte Diagnose für ihre Mutter.
    Dr. Webb hatte im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Kollegen und angehenden jungen Ärzten mit ins Pfarrhaus von Doddington gebracht. Die Kollegen waren sämtlich respektable ältere Männer – Professoren aus Cambridge oder bekannte Londoner Ärzte, die er wegen ihrer Mutter konsultiert hatte. Sie pflegten Charlotte im Vorübergehen würdevoll zu grüßen. Die noch in der Ausbildung befindlichen Ärzte waren junge Männer, die wild entschlossen schienen, sich zu bewähren, und sich nur höchst selten dazu herabließen, mit einem unbedeutenden jungen Mädchen zu reden. Und natürlich war Charlotte nie von ihnen untersucht worden. Sie war immer ein sehr gesundes junges Mädchen gewesen und hatte kaum einmal einen Arzt gebraucht. Ihre Mutter hatte ihre kleinen Wehwehchen selbst kuriert und sie hatte sich auch nie etwas gebrochen. Zum Arzt musste sie nur ein einziges Mal, weil sie in einen Fuchsbau getreten war, als sie über die Schafweide hinter dem Kirchhof lief. Ihre Eltern hatten befürchtet, dass sie sich den Knöchel gebrochen hatte, aber der Arzt – sie erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen – meinte, er sei nur verstaucht.
    Einer der angehenden Mediziner allerdings hatte Charlotte wahrgenommen. Er war schon etwas älter als die anderen, die Dr. Webb begleiteten. Sein Name war Daniel Taylor. Er war groß und sehr dünn, mit rotblondem Haar und ungewöhnlich blasser Haut. Wenn sie an ihn dachte, musste sie immer lächeln, doch gleichzeitig empfand sie ein leises Schuldgefühl. Sie schien grundsätzlich das Falsche zu ihm zu sagen, denn sein jungenhaftes Gesicht nahm unweigerlich eine dunkelrote Färbung an, einen Ton intensiver als sein rotes Haar, wenn sie mit ihm sprach. Wahrscheinlich hatte er sie bewundert. Sie war sich sicher, dass sie ihm gefiel, zumindest bis ihr Vater seiner Missbilligung deutlich Ausdruck verliehen hatte. Mr Taylor hatte Kent verlassen, ohne sich zu verabschieden und, so fürchtete sie, mit dem Eindruck, dass sie selbst genauso von ihm dachte wie ihr Vater. Genau das hatte der Pfarrer wahrscheinlich beabsichtigt.
    Charlotte stach sich mit der Nadel in den Finger und schnappte nach Luft. Überall am Tisch hoben sich Augenpaare und sahen sie fragend an. Sie hielt ihren Finger hoch, der Tropfen Blut war gut sichtbar. Sie lächelte trübselig. »Man sollte keinen Tagträumen nachhängen, wenn man spitzes Werkzeug in den Händen hat.«
    Bess rollte mit den Augen. Die anderen wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, aber Charlotte war geradezu krankhaft fasziniert von dem Blut, das aus ihrem Finger quoll. Sie hob
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