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Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)

Titel: Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Autoren: Julie Klassen
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Lieblingskleid, ein Geschenk ihrer geliebten Tante Tilney. Sie streichelte noch einmal zärtlich darüber und packte es dann sorgfältig zu den anderen Gewändern. Als Nächstes kamen die Ausgehkleider, dann die Abendkleider und die hellen Tageskleider, gefolgt von den dazu passenden Capes und Hüten, dem Haarschmuck und schließlich den langen Handschuhen. Zum Schluss kamen die Unterröcke und das nagelneue Fischbeinkorsett. Das Korsett durfte auf keinen Fall fehlen.
    Wieder wandte sie sich zu ihrem rasch sich leerenden Kleiderschrank und griff nach einem einfachen taubengrauen Musselinkleid, das an Ellbogen und Ärmeln bereits ziemlich abgetragen war. Als sie es aufs Bett legte, kam ihr ein Gedanke. Sie unterbrach ihre Tätigkeit, verließ ihr Zimmer und ging auf Zehenspitzen über den Gang zum Zimmer ihrer Mutter. Vor der Tür blickte sie kurz über die Schulter und als sie niemand sah, drückte sie so leise wie möglich die Türklinke hinunter und ging hinein. Die Fensterläden waren geschlossen. Sie trat ans Fenster und stieß sie auf. Kaltes, graues Morgenlicht fiel in den Raum. Sie ging zurück und schloss die Tür. Dann lehnte sie sich gegen die getäfelte Wand, schloss die Augen und gab sich der Stille und dem Frieden hin, die sie in diesem Zimmer stets empfunden hatte. Sie war lange nicht mehr hier gewesen.
    Plötzlich hörte sie von irgendwoher im Pfarrhaus ein lautes, klapperndes Geräusch. Erschrocken fuhr sie zusammen, obwohl sie keinen Grund hatte zu fürchten, dass man sie hier drinnen fand. Wahrscheinlich war es nur Tibbets, die Feuer machte. Bis ihr Vater aufwachte, würden noch Stunden vergehen. Doch dann erinnerte sie die Erkenntnis, dass bereits jemand auf und bei der Arbeit war, daran, dass sie sich beeilen musste, wenn sie ohne großes Aufhebens das Haus verlassen wollte. Entschlossen trat sie an den Schrank und öffnete die Türen. Ja, die Kleider ihrer Mutter waren noch da. Sie strich nachdenklich über die Gewänder aus Spitze, Samt und Seide, fand aber nicht, was sie suchte. Hatten ihr Vater oder Beatrice es womöglich weggeworfen? Sie schob die Bügel beiseite und schaute unten im Schrank nach, hinter den ordentlich aufgereihten Schuhen. Etwas Braunes fiel ihr ins Auge. Sie griff danach und zog ein zerknülltes lehmfarbenes Bündel hervor, das offensichtlich vom Bügel gerutscht war. Es war ein schlichtes, weit geschnittenes Kleid – das Gartenkleid ihrer Mutter.
    Sie legte es über den Arm und ging hinüber zu dem Nachtkästchen, auf dem etliche Bücher standen, getraute sich aber nicht, die Bibel zu nehmen, weil sie wusste, dass sie aus der Pfarrbibliothek stammte. Stattdessen wählte sie eine kleine, leichte Taschenausgabe des Neues Testaments und der Psalmen. Es war eine Ausgabe für Damen, eine außergewöhnlich hübsche Edition, in Leinen gebunden, mit einem kunstvollen Muster aus Vögeln und Blumen in Seidenstickerei und einem feinen Metallfaden. Das Büchlein war ein Geschenk der Schwester ihrer Mutter gewesen und Charlotte glaubte nicht, dass ihr Vater etwas dagegen hatte, wenn sie es mitnahm.
    Mit einem letzten Blick auf die Sachen, die ihrer Mutter gehört hatten – die Haarbürste und die Kämme, den Kameen-Anhänger und die Schmetterlingsbrosche –, verließ sie das Zimmer und huschte in ihr eigenes zurück. Sie rollte das Kleid ihrer Mutter so eng wie möglich zusammen und stopfte es in einen kleinen ledernen Handkoffer. Dazu kamen das abgetragene graue Kleid, Unterröcke, Strümpfe, Hauspantoffeln und Unterwäsche. Einen Schal, einen Morgenmantel, Handschuhe und das Neue Testament packte sie in eine Reisetasche. Ihre beiden praktischsten Hauben wanderten in eine Hutschachtel. Taschentücher und das wenige Kleingeld, das sie besaß, verstaute sie in einem Ridikül, einem Beutelchen, das sie am Handgelenk trug.
    Sie warf noch einen Blick auf den Schrankkoffer, der gleichsam die Essenz ihrer guten Jahre, ihrer glücklichen, unbeschwerten Jugend enthielt, und drückte entschlossen den Deckel zu. Dann befestigte sie den Reisehut auf ihren hochgesteckten braunen Locken, ergriff Koffer, Reisetasche, Ridikül und Hutschachtel – mehr konnte sie nicht tragen – und verließ das Zimmer. Leise schlich sie die Treppe hinunter. Unten in der Halle warf sie einen raschen Blick auf das silberne Tablett, das auf dem Tischchen stand. Der Brief von gestern lag noch immer dort, unbeantwortet. Ihre Cousine hatte sie von der »freudigen Nachricht« in Kenntnis gesetzt und geschrieben, wie
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