Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
nahmen sie ihm, dass er ihnen keine neuen Privilegien gewährte. Gerüchte waberten seit 1601 durch Moskau, wie Säure zersetzten sie Bori s ’ ohnehin mürbe Legitimität: Dmitrij sei gar nicht tot – er lebe und rücke auf Moskau vor, um Zar zu werden, flüsterte man. Und tatsächlich tauchte in Polen nur wenig später ein Mann auf, der sich mit erstaunlicher Überzeugungskraft als Dmitrij präsentierte.
Was für eine Nachricht: Dmitrij, der Zarensohn, derjenige, dem die Herrschaft rechtmäßig zustand, begehrte den Thron! Zwar war der Prätendent in Wahrheit nur ein entflohener Mönch. Aber der polnische König unterstützte ihn, und ziemlich sicher hatten mächtige Bojaren ihre Finger im Spiel. Ein legitimer Erbe, der Boris’ Herrschaftsanspruch in Frage stellte, kam inneren wie äußeren Feinden des Zaren gerade recht. Auch bei den vielen Bauern, die unter der Leibeigenschaft litten, weckte der angebliche Dmitrij Hoffnungen: Wenn Gott den Zarensohn auf so wundersame Weise wieder auftauchen ließ, dann konnte sich auch ihr Schicksal zum Besseren wenden, dann würde der göttlichen Ordnung wieder entsprochen, glaubten viele Menschen. Längst war aus der dynastischen Krise eine soziale geworden. Eine Hungersnot marterte das Land, die Lebensmittelpreise stiegen. Unzufriedene Bauern und Kosaken im Süden des Landes schlugen sich auf die Seite des falschen Dmitrij, der ab 1604 auf Moskau marschierte. Derart bedrängt, starb Zar Boris überraschend am 23. April 1605, vermutlich an den Folgen eines Blutsturzes.
Fjodor, sein 16-jähriger Sohn, trat das Erbe an, aber er konnte sich nicht lange behaupten: Unter Führung der Bojaren lief der größte Teil des Moskauer Heeres zum falschen Dmitrij über, und mit ihm das Volk, dem der Hochstapler mehr Freiheiten versprach. In Moskau rissen seine Anhänger die Macht an sich und töteten Zar Fjodor und seine Mutter. Im Juni 1605 zog Dmitrij als Sieger in die Hauptstadt ein.
Doch auch der neue Zar brachte das Land nicht ins Gleichgewicht. Der junge Mann, der gebildet war und durchaus geschickt regierte, dachte nicht an Zugeständnisse gegenüber den Bojaren, die ihn auf den Thron gehoben hatten. Nicht die erhoffte Ordnung brachte der angebliche Dmitrij, sondern irritierende Neuerungen: Er war zum Katholizismus konvertiert, holte immer mehr Polen in die Hauptstadt und heiratete eine polnische Adelige. Nicht einmal Mittagsschlaf hielt er nach russischer Sitte! Bojaren unter Führung von Wassilij Schuiski und den Romanows schmiedeten ein Komplott und töteten den Zaren am 27. Mai 1606.
Nun schien das Ziel für die hochadeligen Familien greifbar: Mit Wassilij Schuiski krönten sie einen der Ihren, der versprach, sich in Zukunft bei Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsfragen mit den anderen Bojaren zu beraten. Doch wieder war die Hoffnung auf eine beständige Herrschaft verfrüht: Diesmal sah der niedere Dienstadel im neuen Herrscher eine Marionette des Hochadels. Das Volk fürchtete Steuererhöhungen und noch weniger Freiheit. In der nervösen Stimmung brauchte es nur ein paar Gerüchte, und das Chaos brach aus: Wieder sei ein Wunder geschehen, wieder sei Dmitrij den Attentätern entkommen, streuten die Gegner Wassilijs. Städte und Dienstadelige nahmen den Kampf für den angeblichen Thronanwärter wieder auf.
Zwar war nun fast jedem klar, dass »Dmitrij« ein Betrüger war: Nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit dem Original hatte der Mann, der nun behauptete, der Zarensohn zu sein. Doch hinter ihm konnten sich die Unzufriedenen sammeln, ihre Hoffnung auf eine bessere Herrschaft auf ihn projizieren. Es half Zar Wassilij nicht, dass er den Leichnam des echten Zarensohns Dmitrij öffentlich ausstellte und ihn als Märtyrer heiligsprechen ließ: Der falsche Dmitrij rückte bedrohlich nah an Moskau heran und baute in der Stadt Tuschino nordöstlich der Hauptstadt sogar eine Art Nebenregierung auf.
In seiner Not bat Wassilij Ende 1608 den schwedischen König um Unterstützung. Damit aber provozierte er den polnischen König, der die Bewegung für den falschen Dmitrij unterstützte, um Polens Einfluss im Nachbarland zu vergrößern. Polnische Truppen rückten nach Russland vor, nach mehreren Jahren Bürgerkrieg besetzten sie gemeinsam mit russischen Hilfstruppen im Juli 1610 die Hauptstadt und stürzten den von Schweden unterstützten Zar Wassilij.
Wieder war ein Zar weg – und nun? Ein siebenköpfiger Bojarenrat, der provisorisch die Regierung übernahm, schlug den Sohn des
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