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Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Titel: Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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fort, Freunde für ihren Bernhard zu alarmieren. Dann fuhr ich, ich durfte fahren [Die Benutzung der Straßenbahn war Juden nur im Ausnahmefall mit Sondergenehmigung erlaubt], mit einer Liste von neun Namen ins Bahnhof- und Strehlener Viertel. Simon, nur erst halb bekleidet, bewahrte gute Fassung, während seine sonst robuste Frau fast zusammenbrach. Frau Gaehde in der Sedanstraße, sehr gealtert, riß die Augen übermäßig auf, öffnete immer wieder den Mund so weit, daß das vorgehaltene Taschentuch fast darin verschwand, und protestierte wild mit krampfhaftem Mienenspiel und leidenschaftlicher Betonung: Sie werde bis zum letzten gegen diese Verordnung kämpfen, sie könne nicht fort von ihrem zehnjährigen Enkel, ihrem siebzigjährigen Mann, ihr Schwiegersohnsei im Ausland gefangen »um der deutschen, der deutschen Sache willen«, sie werde kämpfen usw. Frau Kreisler-Weidlich, vor deren Hysterie ich mich gefürchtet hatte, war nicht zu Hause, ich warf das Blatt erleichtert in den Briefkasten. In derselben Franklinstraße hatte ich noch eine Frau Pürckhauer aufzusuchen. Ich traf sie mit ihrem arischen und tauben Mann. Kleine Leute. Sie waren die ruhigsten von denen meiner Liste. Schlimm war trotz ihrer Beherrschtheit eine Frau Grosse in der Renkstraße, hübsches Villenhaus an der Lukaskirche. Eine Frau mittleren Alters, eher damenhaft; sie wollte ihren Mann anrufen, stand hilflos am Telefon: »Ich habe alles vergessen, er arbeitet in einer Konfitürenfirma... mein armer Mann, er ist krank, mein armer Mann... ich selber bin so herzleidend ... « Ich sprach ihr zu, es würde vielleicht nicht so schlimm, es könne nicht lange dauern, die Russen stünden bei Görlitz, die Brücken hier seien unterminiert, sie solle nicht an Tod denken, nicht von Selbstmord reden... Ich bekam endlich die notwendige Empfangsunterschrift und ging. Kaum hatte ich die Korridortür geschlossen, hörte ich sie laut weinen. Ungleich jämmerlicher noch der Fall Bitterwolf in der Struvestraße. Ebenfalls ein armseliges Haus; ich studierte gerade vergeblich die Namenstafel im Hausflur, als eine junge, blonde, stupsnasige Frau mit einem niedlichen, gutgehaltenen Mädelchen von vielleicht vier Jahren kam. Ob hier eine Frau Bitterwolf wohne? Das sei sie selber. Ich müsse ihr eine böse Mitteilung machen. Sie las das Schreiben, sagte ganz ratlos mehrmals: »Was soll aus dem Kind werden?«, unterschrieb dann still mit einem Bleistift. Inzwischen drängte sich das Kind an mich,reichte mir seinen Teddybär und erklärte strahlend vergnügt: »Mein Teddy, mein Teddy, sieh mal!« Die Frau ging dann mit dem Kind stumm die Treppe hinauf. Gleich darauf hörte ich sie laut weinen. Das Weinen hielt an. – Ein sehr armseliges Haus war auch die Werderstraße 29. Die Frau Tenor dort, sagten Frauen auf der Treppe, sei nicht anwesend, aber ganz oben solle ich ihre Freundin aufsuchen. Eine kränkliche, junge, geradezu fein aussehende Person in sehr kümmerlichem Zimmer unterm Dach. Sie sprach sehr besorgt, ihre Freundin habe das immer gefürchtet, werde Selbstmord verüben. Ich predigte eindringlich Mut, sie möge der Freundin Mut machen. – Im Hause Strehlener Straße 52, wo wir wiederholt bei Reichenbachs und bei Seliksohns gewesen, hatte ich einer Frau Dr. Wiese den Befehl zu überbringen. Mir öffnete an deren Statt eine imposante Matrone in Hosen, eine Frau Schwarzbaum. Sie erzählte, und ich erinnerte mich des Falles, daß ihr eigener Mann im vorigen Jahre, um der Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen, zusammen mit Imbach (cf. das Tagebuch vom Lothringer Weg) Selbstmord begangen habe. Zuletzt suchte ich vergeblich das winzige Haus Bürgerwiese 7, winzig, weiß, armselig, alt zwischen stattlichen Nachbarn, nach einer Frau Weiß ab. Die Bürgerwiese darf von Sternjuden nur im Zuge der Lüttichaustraße überquert, sonst nicht begangen werden; ich bin also dort seit Jahren nicht mehr gewesen. – Eben war Frau Jährig mit ihrer jungen Tochter hier, von der sie sich trennen muß. Auftrag von Neumark: Die Frau Weiß wohne bei ihrer Mutter Kästner; ich muß gleich noch einmal hin.
     
    Dresden Giesela Neuhaus *1924
    Dresden war militärisch nicht geschützt. Es gab keine Abwehr, keine Bunker, die Stadt würde verteidigungslos in die Hände der Russen fallen.
    Während des ganzen Krieges hatte Dresden keinen Bombenangriff erlebt. Es blieb verschont. Bei Luftalarm, was häufiger vorkam, wenn Flugzeugverbände Dresden überflogen, suchte fast niemand seinen
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