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Colorado Kid

Colorado Kid

Titel: Colorado Kid
Autoren: Stephen King
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Wassers in Tinnock deutlich ab. Stephanie konnte den Schriftzug SUNOCO auf einer Zapfsäule und den Namen LeeLee Bett am Rumpf eines Schellfischkutters erkennen, der zum herbstlichen Ausbessern und Lackieren an Land gezogen worden war. Ein Junge in kurzer Hose und abgeschnittenem Trikot der Patriots angelte am müllübersäten Kiesstrand vor Preston’s Bar. Die Sonne blinzelte tausendfach von den Blecheinfassungen hunderter Dächer. Zwischen Tinnock Village (eher eine Kleinstadt als ein Dorf) und Moose-Lookit Island fielen die Sonnenstrahlen auf das blaueste Wasser, das Stephanie je gesehen hatte. An Tagen wie diesem fragte sie sich, wie sie jemals in den Mittleren Westen zurückkehren solle – ob sie das überhaupt könnte. An anderen Tagen hingegen, wenn der Nebel hereindrückte und das Festland verschwand, wenn der wehmütige Klang des Nebelhorns wie die Stimme eines längst vergessenen wilden Tieres ertönte … tja, dann fragte sie sich das auch.
    Du musst vorsichtig sein, Steffi, hatte Dave einmal zu ihr gesagt, als sie draußen auf der Veranda saß, auf dem Schoß den Block mit einem halb fertigen Artikel in ihrer schwungvollen, nach links geneigten Handschrift. Das Leben auf der Insel schleicht sich dir klammheimlich in den Körper, und wenn du es einmal hast, ist es wie Malaria. Dann wirst du es so schnell nicht mehr los.
    Stephanie knipste das Licht an (die Sonne neigte sich dem Horizont zu, in dem lang gezogenen Raum wurde es allmählich dunkel), setzte sich an ihren Schreibtisch und suchte ihren treuen Schreibblock, auf dessen oberstem Blatt sie einen neuen Artikel verfasst hatte. Er war so gut wie identisch mit einem halben Dutzend anderer, die bereits gedruckt worden waren, dennoch betrachtete sie ihn mit unverhohlenem Stolz. Schließlich war dieser Text ihr Werk, es waren ihre Worte, für die sie bezahlt wurde, und sie zweifelte nicht dran, dass die Leute im Verbreitungsgebiet des Islander – das gar nicht so klein war – ihn auch tatsächlich lasen. Ihr ehemaliger Englischlehrer an der High School hätte von ars utile gesprochen.
    Mit leisem, aber vernehmlichem Stöhnen nahm Vince an seinem Schreibtisch Platz. Es ertönte ein Knacken, als er sich erst nach links, dann nach rechts drehte. »Die Wirbelsäule einrenken«, nannte er das. Dave sagte immer, eines Tages würde er durch sein Einrenken vom Hals abwärts gelähmt sein, doch diese Prognose schien Vince keine Sorgen zu bereiten. Er stellte den Computer an, während sein geschäftsführender Herausgeber auf der Schreibtischkante saß, einen Zahnstocher hervorholte und damit in seinem Gebiss herumbohrte.
    »Was liegt heute an?«, fragte Dave, während Vince darauf wartete, dass sein Computer hochfuhr. »Feuer? Flutwellen? Erdbeben? Aufstand der Massen?«
    »Ich dachte, ich fange mit Ellen Dunwoodie an. Sie hat den Hydranten auf der Beach Lane umgefahren, als sich die Handbremse ihres Wagens löste. Wenn ich dann so richtig in Fahrt bin, wollte ich meinen Leitartikel über Büchereien noch mal überarbeiten«, sagte Vince und knackte mit den Fingerknöcheln.
    Dave warf Stephanie von Vince’ Schreibtisch aus einen Blick zu. »Erst der Rücken, dann die Finger«, sagte er. »Wenn er noch lernt, auf seinem Brustkorb ›Dry Bones‹ zu spielen, können wir ihn bei American Idol anmelden.«
    »Nur am Meckern«, sagte Vince liebevoll. »Weißt du, Steffi, irgendwie ist das ja grotesk: Ich sitze hier mit meinen neunzig Jahren, reif für die Kühltruhe, und habe einen brandneuen Macintosh vor mir, und du mit deinen zweiundzwanzig sitzt daneben, zart und knackig wie ein junger Pfirsich, und schreibst auf einem Block wie eine alte Jungfer aus einem Viktorianischen Roman.«
    »Zu Viktorias Zeiten gab es bestimmt noch keine Schreibblöcke«, sagte Stephanie. Sie schob die Blätter auf ihrem Schreibtisch umher. Als sie im Juni nach Moose-Look zum Weekly Islander gekommen war, hatte man ihr den kleinsten Tisch hinten in der Ecke zugewiesen, kaum größer als in der Grundschule. Mitte Juli war sie zu einem größeren in der Mitte des Raumes aufgerückt. Das freute sie, aber mehr Platz auf dem Tisch bot auch mehr Gelegenheit, Sachen zu verlieren. Sie suchte herum, bis sie einen pinkfarbenen Handzettel fand.
    »Weiß einer von euch, welcher Organisation der Gewinn des diesjährigen Heuwagenausflugs mit anschließendem Picknick von Gernerds Hof zugute kommt, ›diesmal mit Musik von Little Jonna Jaye und den Straw Hill Boys‹?«
    »Wahrscheinlich Sam Gernerd,
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