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Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Autoren: Stephen King
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musste gesehen haben, wie sie sich vor seinen Augen von seiner Mutter - eine schwierige, aber manchmal liebevolle Frau - in eine nach Fusel riechende Puffmutter verwandelte, die einem Freier, der noch grün hinter den Ohren war, Anweisungen gab. Alles schlimm genug, aber er liebte die kleine Cotterie, und das machte die Sache noch schlimmer. Sehr junge Männer müssen ihre erste Liebe einfach auf einen Sockel stellen,
und sollte jemand vorbeikommen und auf diesen Ausbund von Tugend spucken … selbst wenn’s die eigene Mutter ist …
    Ich hörte, wie er seine Tür zuknallte. Und leises, aber unverkennbares Schluchzen.
    »Du hast seine Gefühle verletzt«, sagte ich.
    Sie äußerte die Ansicht, Gefühle seien wie Gefälligkeit ein letzter Ausweg von Feiglingen. Dann streckte sie mir ihr Glas hin. Ich schenkte ihr nach und wusste dabei, dass sie am Morgen (immer vorausgesetzt, dass sie noch da war, um den Morgen zu begrüßen) nicht mehr wissen würde, was sie gesagt hatte, und es vehement leugnen würde, wenn ich es ihr erzählte. Ich hatte sie schon früher betrunken erlebt, wenn auch seit Jahren nicht mehr so sehr.
    Wir leerten die zweite Flasche (sie allein) und die Hälfte der dritten, bevor ihr das Kinn auf den weinfleckigen Busen sank und sie zu schnarchen begann. Die aus ihrer eingeengten Kehle kommenden Schnarchlaute klangen wie das Knurren eines gereizten Hundes.
    Ich legte ihr einen Arm um die Schultern, hakte eine Hand unter ihre Achsel und zog sie hoch. Sie murmelte protestierend und schlug mit einer stinkenden Hand schwach nach mir. »La’ mich’n Ruh. Will jetz’ schlaf’m.«
    »Das sollst du auch«, sagte ich. »Aber in deinem Bett, nicht auf der Veranda.«
    Ich führte sie - wobei sie torkelte und schnaufte, ein Auge geschlossen, das andere trüb starrend aufgerissen - durchs Wohnzimmer. Henrys Tür öffnete sich. Er stand auf der Schwelle, sein Gesicht ausdruckslos und viel älter, als er in Wirklichkeit war. Er nickte mir zu. Nur ein einziges kurzes Senken des Kopfs, aber es sagte mir alles, was ich wissen musste.
    Ich legte sie aufs Bett, zog ihr die Schuhe aus und ließ sie mit gespreizten Beinen und einer über den Matratzenrand
baumelnden Hand weiterschnarchen. Dann ging ich ins Wohnzimmer zurück, wo ich Henry neben dem Radio stehend vorfand, zu dessen Anschaffung Arlette mich im Vorjahr gedrängt hatte.
    »Sie darf nicht solche Sachen über Shannon sagen«, flüsterte er.
    »Aber sie wird’s tun«, sagte ich. »So ist sie eben, so hat der Herr sie geschaffen.«
    »Und sie kann Shannon und mich schon gar nicht auseinanderbringen .«
    »Doch, auch das wird sie tun«, sagte ich. »Wenn wir sie lassen.«
    »Könntest du … Papa, könntest du dir nicht selbst einen Anwalt nehmen?«
    »Glaubst du, dass irgendein Anwalt, den ich mir mit meinem bisschen Geld auf der Bank leisten könnte, den Anwälten gewachsen ist, die Farrington gegen uns aufbieten wird? Die schwingen hier in der Hemington County den Hammer; ich schwinge nur eine kleine Sichel, um Heu zu mähen. Die wollen diese 70 Hektar, und sie will sie denen verschaffen. Es gibt keinen anderen Ausweg, aber du musst mir helfen. Tust du’s?«
    Er sagte lange nichts. Er senkte den Kopf, und ich sah Tränen aus seinen geschlossenen Augen auf den Häkelteppich tropfen. Dann flüsterte er: »Ja. Aber wenn ich zusehen muss … Ich weiß nicht, ob ich das kann …«
    »Du kannst helfen, ohne zusehen zu müssen. Geh in den Schuppen und bring mir einen Rupfensack.«
    Er tat, was ich verlangte. Ich ging in die Küche und holte ihr schärfstes Fleischermesser. Als er mit dem Sack zurückkam und das Messer sah, wurde er blass. »Muss es damit sein? Kannst du sie nicht … mit einem Kissen …«
    »Das wäre zu langsam und zu qualvoll«, sagte ich. »Sie würde sich wehren.« Er akzeptierte das, als hätte ich vor
meiner Ehefrau bereits ein Dutzend anderer Frauen umgebracht und wüsste deshalb Bescheid. Aber dem war nicht so. Ich wusste nur, dass ich in all meinen unausgegorenen Plänen für diesen Augenblick - sozusagen in meinen Tagträumen davon, sie loszuwerden - immer das Messer gesehen hatte, das ich jetzt in der Hand hielt. Also musste es das Messer sein. Das Messer oder nichts.
    Wir standen im Licht der Petroleumlampen da - in Hemingford Home würde es außer durch Stromaggregate erzeugte Elektrizität erst 1928 geben - und starrten uns an, während die große Nachtstille, die dort draußen am Ende der Welt existiert, nur von ihrem hässlichen
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