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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer
Autoren: S Dessen
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die Macy Queen, die bei den Mittelschulwettkämpfen Rekord über fünfzig Meter gelaufen war. Nein, ich war das Mädchen, das am Tag nach Weihnachten aus dem Haus ging und mit ansah, wie sein Vater auf dem Asphalt am anderen Ende der Straße lag, während irgendein fremder Mensch verzweifelt versuchte ihn durch Herzmassage wiederzubeleben. Wieder und immer wieder drückte er auf die breite Brust des Mannes, der da am Boden lag. Ich sah meinen Vater sterben. Und so kannte man mich. Das war ich   – jetzt.
    Wenn sie davon erfuhren oder mich sahen und sich daran erinnerten, machten die Leute immer dieses ganz bestimmte Gesicht. Ein spezieller, trauriger Gesichtsausdruck, dazu den Kopf leicht schräg geneigt und den Mund ein wenig geöffnet, nach dem Motto:
Mein Gott, wie schrecklich, das arme Mädchen!
So gut gemeint das auch sein mochte   – für mich war es bloß ein Zusammenspiel von Muskeln und Sehnen, das nichts bedeutete. Gar nichts. Ich hasste diesen Gesichtsausdruck. Und sah ihn überall.
    Das erste Mal im Krankenhaus: Als meine Mutter aus dem kleinen Wartezimmer trat   – dem, das an den Hauptwartebereich grenzt   –, saß ich neben dem Wasserspender. In das kleine Wartezimmer nehmen sie die Leute mit, um ihnen die wirklich brutalen Neuigkeiten mitzuteilen; so viel hatte ich bereits mitgekriegt. Die Nachricht, dass sie nicht länger zu warten brauchen. Die Nachricht vom Tod ihres Angehörigen. Gerade noch hatte ich eine Familie bei ihrem Gang zu diesem kleinen Wartezimmer beobachtet. ZehnSchritte, einmal um die Ecke biegen   – und die Grenze zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit war überschritten. Deshalb wusste ich schon Bescheid, während meine Mutter von der anderen Seite der Grenze her noch auf mich zulief. Hinter ihr tauchte eine rundliche Krankenschwester mit Klemmbrett in der Hand auf, die   – als sie mich dort warten sah, in meiner Laufhose, dem weiten Sweatshirt und ausgelatschten, müffelnden Turnschuhen   – sofort jenen Gesichtsausdruck aufsetzte.
Ach du armes, armes Mädchen
, besagte er. In dem Moment ahnte ich natürlich nicht, dass er mich von nun an verfolgen würde.
    Auf der Beerdigung sah ich ihn, wohin ich auch schaute. Die Leute trugen diesen Gesichtsausdruck wie eine Maske. Als ich an den Kirchenbänken vorbeilief, erstarb das leise Gemurmel und man warf mir diskrete Seitenblicke zu. Der Gesichtsausdruck verfolgte mich zusammen mit ihren Blicken, obwohl ich den Kopf gesenkt hielt und auf das Schwarz meiner Strumpfhose sowie die Spitzen meiner Schuhe starrte. Meine Schwester Caroline, die neben mir herging, schluchzte vor sich hin, schluchzte immerzu: Während des Trauergottesdienstes, als wir die Kirche durch den Mittelgang verließen, im Wagen zum Friedhof, auf dem Friedhof, bei der Nachfeier. Sie weinte so sehr, dass es mir   – selbst wenn ich gekonnt hätte   – falsch vorgekommen wäre mitzuweinen. Noch eine Weinende mehr wäre einfach eine zu viel gewesen. Tränen-Overkill.
    Ich fand’s ätzend. Fand ätzend, was auf der Beerdigung ablief, ätzend, dass mein Vater tot war, ätzend, dass ich an jenem Morgen zu verpennt, zu faul gewesen war, um aufzustehen, als er in seinem alten, ausgeleierten T-Shirt mit der Aufschrift
Waccamaw-Fünf-Kilometer-Lauf
in mein Zimmer kam und mir ins Ohr flüsterte:
Wach auf, Macy, du kriegst
auch einen Vorsprung. Komm, hoch mit dir, du weißt doch, die ersten paar Schritte sind die schwersten
. Aber ich hatte abgewunken, mich auf die andere Seite gedreht. Ich fand’s ätzend, dass ich meine Meinung nicht zwei oder drei, sondern erst fünf Minuten später geändert hatte, erst dann aufstand, meine Laufklamotten zusammenklaubte, die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zuband. Ich fand’s ätzend, dass ich auf diesen knapp fünfhundert Metern nicht schneller gewesen war, dass er schon nicht mehr da war, als ich ihn endlich erreichte, mein Gesicht nicht mehr sehen, meine Stimme nicht mehr hören und ich ihm nicht mehr sagen konnte, was ich ihm sagen wollte. Okay, war ich eben das Mädchen, dessen Vater gestorben war, während sie daneben hockte. Von mir aus. Alle Welt wusste es. Dass sie es wussten, konnte ich ebenso wenig kontrollieren wie vieles andere. Aber dass ich wütend war und Angst hatte, war mein Geheimnis. Und das gehörte mir. Mir ganz allein.
     
    Als ich von den Talbots heimkam, stand auf den Stufen vor der Haustür ein Paket. Ein Blick auf den Absender und ich wusste, worum es sich handelte.
    Ich trat ins Haus, ließ die
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