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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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anderen zu tun haben, die anders sind als sie. Die Europäer können sich hier freilich kaum in Selbstgefälligkeit zurücklehnen, zerstörte der Tribalismus in Gestalt des Nationalismus doch Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein halbes Jahrhundert später besitzen die einst so toleranten Niederlande heute ihre eigenen Talkradiosender, in denen die bloße Erwähnung des Wortes »Muslim« einen geradezu Wagner’schen Sturm von Klagen auslöst.
    Tribalismus verbindet Solidarität gegenüber solchen, die einem ähnlich sind, mit Aggression gegen solche, die anders sind. Das ist ein natürlicher Impuls, denn die meisten sozial lebenden Tiere sind tribalistisch. Sie jagen gemeinsam in Meuten und grenzen Territorien ab, die sie verteidigen. Der Stamm ist für ihr Überleben notwendig. In menschlichen Gesellschaften kann Tribalismus allerdings kontraproduktiv sein. Komplexe Gesellschaften wie die unsrigen sind auf einen grenzüberschreitenden Strom von Arbeitskräften angewiesen. Sie umfassen verschiedene ethnische Gruppen, Rassen und Religionen. Sie bringen unterschiedliche Formen von Sexual- und Familienleben hervor. Diese Komplexität in ein einziges kulturelles Muster zu zwingen wäre politisch repressiv und Selbstbetrug. Das »Selbst« ist aus Gefühlen, Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen zusammengesetzt, die selten genau zueinanderpassen. Jeder Ruf nach tribaler Einheit verringert diese persönliche Komplexität.
    Aristoteles war wohl der erste westliche Philosoph, der sich über die repressive Einheit Gedanken machte. Er verstand den Stadtstaat als synoikismos , als ein Zusammenkommen von Menschen aus verschiedenen Familien oder Sippen mit jeweils eigener Geschichte, eigenen Loyalitäten, eigenem Besitz und eigenen Familiengöttern. Im Blick auf Handel und wechselseitige Hilfe im Krieg meint er: »Der Staat besteht … aus vielen Menschen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat.« 2 So zwingt er seine Bürger, über Menschen mit anderen Treupflichten nachzudenken und mit ihnen umzugehen. Offensichtlich kann wechselseitige Aggression eine Stadt oder einen Staat nicht zusammenhalten, doch Aristoteles fasst diesen Gedanken noch subtiler. Zum Tribalismus gehört es danach, dass man zu wissen glaubt, wie andere Leute seien, obwohl man sie gar nicht kennt. Da man im Blick auf diese Menschen keine unmittelbare Erfahrung besitzt, fällt man auf seine Angstphantasien zurück. Nach heutigen Begriffen ist das die Idee des Stereotyps.
    Vermag unmittelbare Erfahrung Stereotype zu schwächen? Das glaubte jedenfalls der Soziologe Samuel Stouffer, der während des Zweiten Weltkriegs beobachtete, dass weiße Soldaten, die gemeinsam mit schwarzen gekämpft hatten, weniger rassenbezogene Vorurteile hatten als weiße Soldaten, die nicht über solche Erfahrungen verfügten. 3 Der Politikwissenschaftler Robert Putnam stellte Stouffer – und Aristoteles – auf den Kopf. Er fand heraus, dass unmittelbare Erfahrung mit Andersartigkeit die Menschen in Wirklichkeit veranlasst, sich von ihren Nachbarn zurückzuziehen. Umgekehrt scheinen Menschen, die in homogenen lokalen Gemeinschaften leben, aufgeschlossener gegenüber Menschen in der weiteren Welt zu sein. 4 Die umfangreiche Studie, auf der diese Thesen basieren, bildet allerdings eher Einstellungen als tatsächliches Verhalten ab. Im Alltagsleben müssen die Menschen solche Einstellungen möglicherweise oft einfach beiseiteschieben. Wir sind ständig gezwungen, mit Menschen umzugehen, vor denen wir Angst haben, die wir nicht mögen oder die wir schlichtweg nicht verstehen. Putnam ist der Auffassung, dass Menschen angesichts solcher Herausforderungen zunächst versucht sind, sich zurückzuziehen oder sich »einzuigeln«.
    Besorgt über den Zustand der Welt an meinem sicheren Zufluchtsort in der Universität und auch über die Wirkung des » fuck you, fuck you « auf meinen Enkel, fragte ich mich, was man im Blick auf den Tribalismus tun kann. Die Probleme des Umgangs mit Unterschieden sind so groß, dass es keine Einzel- oder Gesamtlösung geben kann. Zu den Eigenheiten des Alters gehört indessen die Tatsache, dass man nicht sonderlich glücklich ist mit Feststellungen wie: »Was soll man da machen?« Resignation ist kein gutes Vermächtnis.

    Kooperation lässt sich nüchtern definieren als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren. Solch ein Verhalten ist ohne weiteres erkennbar bei Schimpansen, die sich gegenseitig lausen, bei
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