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Zorn

Zorn

Titel: Zorn
Autoren: John Sandford
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Sherill. »Er wäre damals noch zu jung gewesen.«
    »Doch, ich erinnere mich ganz genau«, beharrte der ältere Kollege. »Ich glaube, das war sein erster Fall in Zivil.«
    Marcy Sherrill war die ranghöchste Beamtin am Fundort, eine kräftige, schwarzhaarige Frau Ende dreißig mit breitem Lächeln und weißen Zähnen sowie dem, was frühere Generationen von Cops eine »gute Figur« genannt hätten. Sie stand im Ruf, Faustkämpfe nicht zu scheuen, und trug nach wie vor einen bleibeschwerten Schlagstock bei sich. Marcy Sherrill hatte zu einer Zeit bei der Polizei angefangen, als Streifenpolizistinnen noch eine Seltenheit waren. Inzwischen galt sie bei den Männern als ebenbürtig, nicht mehr als weibliche Kollegin, als »Dickless Tracy«, als schwanzlose Version des kantigen Comic-Cops Dick Tracy. Im Verlauf ihrer Karriere war sie kaum weicher geworden; nach Ansicht vieler würde sie eines Tages entweder Polizeichefin von Minneapolis werden oder in die Politik gehen.
    In der Gruppe um sie herum befanden sich fünf Beamte im Ruhestand, Männer, die an den ursprünglichen Ermittlungen zu den beiden Mädchen beteiligt gewesen waren. Man hatte die Polizei sofort nach dem Fund der Leichen informiert, und allmählich begann sich die Sache herumzusprechen. Aus dem gesamten Stadtgebiet machten sich ältere Polizisten und Ex-Polizisten auf den Weg ins Zentrum, um selbst einen Blick auf die Mädchen zu werfen und über damals zu reden: über das Streifegehen in den heißen Sommern und kalten Wintern, in der Zeit vor Computern, Handys und DNS.
    Als Davenport sich zu ihnen gesellte, nickten die grauhaarigen Kollegen ihm zu – sie kannten ihn alle aus seinen Jahren in Minneapolis –, und er schüttelte einigen von ihnen die Hand. Ein paar, die ihn nicht mochten, verdrückten sich, und Marcy Sherrill fragte: »Wie hast du’s erfahren?«
    »Ist Stadtgespräch bei den Cops«, antwortete er. Er arbeitete für das Staatskriminalamt von Minnesota und war durch seinen engen Kontakt zum Gouverneur der vermutlich einflussreichste Polizist des Staates. Verwaltungstechnisch gesehen lag Minneapolis in seinem Zuständigkeitsbereich, doch das ließ er Marcy Sherrill gegenüber nicht heraushängen. Er deutete in Richtung Plastikplane und fragte: »Hast du was dagegen, wenn ich sie mir ansehe?«
    »Nur zu«, antwortete Sherrill.
    »Sie liegen mit dem Gesicht nach oben, der Kopf an dem Ende da drüben«, erklärte Hote.
    Lucas ging bei Hotes Knieabdrücken in die Hocke, betrachtete die verschrumpelten Gesichter etwa dreißig Sekunden lang und schob sich dann, ohne auf die Bügelfalte in seiner schicken Wollhose zu achten, vorsichtig an der Plane entlang, das Gesicht keine drei Zentimeter davon entfernt. Wenig später stand er auf, wischte sich die Knie ab und stellte fest: »Das links ist Nancy, und rechts liegt Mary.«
    »Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen«, widersprach Hote. »Obwohl Größe und Haarfarbe stimmen …«
    »Das sind sie«, beharrte Lucas. »Nancy war die größere von den zweien; sie trug eine Bluse mit kleinen roten Herzen, die sie von ihrem Vater zum Valentinstag bekommen hatte, sein letztes Geschenk an sie. Die Bluse liegt zusammengeknüllt zwischen ihren Oberschenkeln. Ich kann die Herzen erkennen.«
    Marcy Sherrill blickte über den Rand des Lochs. »Was das hier wohl für eine Adresse war? Wir müssen uns das mal auf der Karte ansehen. Der Beschuldigte …«
    »Terry Scrape«, sagte Lucas. »Der war’s nicht.«
    Sie sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, das wäre geklärt. Er wurde doch getötet …«
    Lucas nickte. »Stimmt. Ich war dabei. Ich dachte damals, er hätte tatsächlich was damit zu tun. Aber wenn ich das hier so sehe, glaube ich es nicht mehr. Es muss ein anderer gewesen sein. Jemand mit bedeutend mehr Kraft und Grips als Scrape. Ich habe den Täter seinerzeit gespürt, konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Er hat es Scrape angehängt, und wir haben uns aufs Glatteis führen lassen.«
    »Ich muss die Akte einsehen«, sagte Marcy Sherrill.
    »Scrape hat in Uptown gelebt«, erinnerte sich Lucas. »Er kann die Mädchen nicht umgebracht und im Keller eines Privathauses unter dem Betonboden vergraben haben … Er war bloß ein paar Wochen in der Stadt, die meiste Zeit obdachlos, und hat einen Teil der Zeit in einem Loch unter einem Baum gehaust. Er hatte nicht mal einen Wagen.«
    »Ich muss mir Adressen besorgen, rausfinden, wer hier gewohnt hat«, erklärte Sherrill.
    Lucas blickte über den Rand des
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