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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10
Autoren: Ake Edwardson
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die Nacht vor dem Fenster, eine fahle Dunkelheit, das schwache Licht, als ob sich die Natur nicht entscheiden könnte, jetzt, da der Sommer fast vorbei war und der Herbstnebel langsam aus dem Boden kroch.
    »Es ging um eine Vermisste«, sagte Winter. »Jetzt fällt es mir wieder ein.«
    »Im Hotel ›Revy‹?«
    »Es ging um eine Frau«, sagte Winter. »Ich erinnere mich nicht an ihren Namen. Aber sie war von zu Hause verschwunden. Wollte etwas erledigen. Sie war verheiratet, glaube ich. Und soweit ich mich erinnern kann, hatte sie in der Nacht, bevor sie verschwand, im ›Revy‹ eingecheckt.«
    »Verschwand? Wohin?«
    Winter antwortete nicht. Er stand da, in Gedanken versunken, in seiner Erinnerung, so wie draußen Dachfirste, Straßen, Parks, Hotels und Häfen in der Dunkelheit versanken.
    »Was ist mit ihr passiert?«, fragte Ringmar. »Ich hab wahrscheinlich schon in zu vielen vergleichbaren Fällen ermittelt, da vermischt sich alles.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Winter und sah Ringmar an.
    »Niemand weiß es. Ich glaube, sie ist nie gefunden worden. Nein.«
    Winter war siebenundzwanzig und frisch gebackener Kriminalassistent gewesen, der Spätsommer grüner als üblich, da es den ganzen Sommer über ungewöhnlich viel geregnet hatte. Jeden Tag war er durch die Stadt gestreift ohne einen Gedanken an Urlaub, aber er hatte an die Zukunft gedacht, an seine Zukunft, die Zukunft eines Fahnders. Er hatte sein Jurastudium abgebrochen, noch bevor er es richtig angefangen hatte, nur um Polizist zu werden. Nach einem Jahr in Uniform und einem halben Jahr in der Zivilkleidung eines Fahnders war er jedoch immer noch nicht sicher, ob er sein Leben damit verbringen wollte, in die Unterwelt einzudringen. Oben war es einfach heller. Selbst wenn es regnete. In eineinhalb Jahren bei der Fahndung hatte er so vieles gesehen, was normale Menschen niemals zu Gesicht bekommen, selbst wenn sie hundert Jahre alt werden. Und er dachte: normale Menschen. Jene, die oberhalb der Unterwelt lebten. Dort lebte auch er manchmal, er kam und ging, kroch hinauf und kroch wieder hinunter, aber er wusste, dass sein Leben nie mehr »normal« sein würde. Wir haben hier unten eine eigene Welt, wir Polizisten, zusammen mit unseren Dieben, Mördern und Vergewaltigern. Wir verstehen. Wir verstehen einander.
    Als er anfing zu verstehen, was es bedeutete, zu verstehen, wurde es leichter. Ich werde wie sie, dachte er. Wie die Mörder.
    Ich werde immer mehr wie sie, da sie niemals werden können wie ich.
    Er begriff, dass er nicht in den üblichen Mustern denken durfte, wollte er Antworten auf die Rätsel finden. Da wurde es leichter. Es wurde aber auch schwerer. Er spürte, wie er sich allmählich veränderte, während er gleichzeitig immer besser in der Arbeit, in seinem Denken wurde. Wenn er die Lösung eines Rätsels oder Teile der Lösung gefunden hatte, sagte er sich, er habe eine lebhafte Phantasie, und das war’s dann. Aber es kam nicht nur auf die Phantasie an. Er hatte wie sie gedacht, hatte sich in der Dunkelheit bewegt wie sie. Lange hatte er kein eigenes Leben geführt, denn je besser er wurde, um so schwerer war es, »normal« zu leben. Er war einsam. Er war wie ein Fels in der Brandung. Er brachte die Tageszeiten durcheinander. Er brachte alles durcheinander. Nur sein Rätsel nicht. Er pflegte es, deckte es gut zu, goss es. Wenn es um das Rätsel ging, war er Pedant, pflegte es zwanghaft. Seine Papiere lagen sorgsam ausgerichtet auf dem Schreibtisch. Zu Hause war seine Kleidung zwischen Schlafzimmer und Bad auf unordentlichen Haufen verteilt. Seine Zivilkleidung für den Polizeidienst war überaus adrett, da er es nicht für eine Tugend hielt, verlottert herumzulaufen, trotzdem steckte unter der schönen Schale ein verlotterter Kerl. Er versuchte vernünftig für sich zu kochen, gab es aber irgendwann auf, öffnete stattdessen eine Flasche Malzwhisky zu einer Zeit, als kaum jemand wusste, was Malzwhisky war. In diesem Punkt war Winter der »normalen« Welt voraus. Er versuchte den Whisky so langsam wie möglich zu trinken und hörte dazu den atonalen Jazz, den sonst niemand ertrug. Whisky und Jazz, das wurde seine Methode. Wenn die Nacht kam, saß er im Halbdunkel über seinen Papieren, seinen Rätseln, später an einem Laptop, der ein kaltes Licht verbreitete.
    Nach einigen Jahren im Dezernat bemerkte er, dass er sich selbst gefunden hatte, da er langsam das verloren hatte, was er selbst gewesen war, und er fand es gut, es war eine
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