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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10
Autoren: Ake Edwardson
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allzu lange konzentriert über dem Brief gebrütet und vergessen, seinen fünfundvierzig Jahre alten Körper zu bewegen. Das konnte er sich nicht mehr leisten, er konnte nicht sonderlich lange still sitzen. Aber er lebte noch. Er hatte seine Hände. Er konnte sie heben und sich den Nacken massieren. Er tat es, ließ die Hände wieder sinken, ging zu Ringmar, der immer noch am Fenster lehnte, öffnete es einen Spalt und sog die kühlende Abendluft ein.
    Bertil war wütend. Er war ein Profi, und er war wütend, das war eine gute Kombination. Wut beflügelt die Phantasie, treibt an. Ein Polizist ohne Phantasie ist ein schlechter Jäger, allenfalls Mittelmaß. Polizisten, denen es gelang, abzuschalten, wenn sie das Präsidium verließen und nach Hause fuhren. Für sie mochte es gut sein, aber nicht für die Arbeit. Nur wer nicht über die notwendige Phantasie verfügte, konnte nach dem Dienst abschalten – und sich später fragen, warum es nie Resultate gab. Viele waren so, hatte Winter während seiner Karriere bei der Kriminalpolizei verschiedentlich festgestellt, es gab reichlich von ihnen, vom kaum tauglichen Mittelmaß, von denen, die nicht weiter denken konnten als bis zur nächsten Hügelkuppe. In dieser Hinsicht waren sie mit den Psychopathen verwandt, ihnen fehlte die Fähigkeit, über die eigene Nasenspitze hinaus zu denken: Gibt es noch etwas jenseits des Hügels? Nee, ich kann ja nichts sehen, also gibt’s da auch nichts. Ich glaube, ich überhole.
    »Ich weiß nicht, ob das eine Botschaft für uns ist«, sagte Winter. »Die Hand. Die weiße Hand.«
    »Was war mit ihrer Hand?«, fragte Ringmar.
    »Wie meinst du das?«
    »Gibt es eine … Geschichte, die mit ihrer Hand zusammenhängt? Warum hat er sie mit diesem verdammten Zeug angepinselt?«
    Die Innenraumfarbe stammte von Becker, sie hieß Syntem, war antikweiß, matt, geeignet für Holz, Möbel, Wände und Eisenflächen. All das stand auf der Literdose, die man im Zimmer Nummer 10 gefunden hatte. Es war Sache der Spurensicherung, festzustellen, ob es wirklich diese Farbe war, die für den menschlichen Körper benutzt worden war. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, aber sie brauchten Klarheit. In einem Punkt hatten sie bereits Gewissheit: Paula Ney hatte den Pinsel nicht berührt, der neben der fast vollen Dose gelegen hatte. Der Farbe also, die offenbar benutzt worden war, um Paulas Hand anzumalen. Danach war der Pinselschaft sorgfältig abgewischt worden.
    »Da sei nichts … Unnormales mit der Hand gewesen, behaupten die Eltern«, sagte Winter.
    Herr im Himmel. Die Eltern hatten Paulas Hand noch nicht gesehen. Pia Fröberg und Torsten Öberg waren noch nicht fertig mit ihr. Winter hatte sie vor den Eltern verbergen und gleichzeitig davon erzählen, Fragen danach stellen müssen. Was für ein beschissener Job.
    »Die Familienfotos sind in meinem Zimmer«, sagte Ringmar.
    »Auf denen werden wir auch nichts finden«, sagte Winter.
    Ringmar reagierte nicht. »Was will er mit der Hand?«, fragte er dann.
    »Das klingt ja, als hätte er sie mitgenommen.«
    »Hast du nicht auch so ein Gefühl?«
    »Ich weiß es nicht, Bertil.«
    »Ich seh keinen Sinn darin. Der Kerl will uns was mitteilen. Er will uns was erzählen.« Ringmar fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. »Von sich selbst.« Er schaute Winter an.
    »Oder von ihr.« Er sah aus dem Fenster. Winter folgte seinem Blick. Draußen war nichts als Dunkelheit. »Oder beides.«
    »Sie haben einander gekannt?«, fragte Winter.
    »Ja.«
    »Sie haben sich in einem abgelegenen Hotel verabredet? Und sich vorsichtshalber gar nicht erst bei der Rezeption angemeldet?«
    »Ja.«
    »Glauben wir das?«
    »Nein.«
    »Aber sie kannte den Mörder?«
    »Ich glaube, ja, Erik.«
    Winter antwortete nicht.
    »Ich bin schon zehn Jahre länger in diesem verdammten Job als du, Erik, ich hab schon fast alles gesehen, aber was hier passiert ist, da kann ich mir keinen Reim drauf machen.«
    »Wir schaffen es zusammen«, sagte Winter.
    »Natürlich.« Doch Ringmar lächelte nicht.
    »Wo wir gerade von früher reden«, sagte Winter, »als ich noch richtig feucht hinter den Ohren war, in meinem ersten Jahr als Fahnder, hatte ich, glaube ich, einen Fall, in dem das Hotel ›Revy‹ eine Rolle spielte.«
    »Es ist wahrscheinlich nicht das erste Mal, dass diese Absteige in einer Ermittlung auftaucht«, meinte Ringmar. »Das weißt du genauso gut wie ich.«
    »Ja … aber der Fall … war irgendwie was Besonderes.«
    Winter starrte in
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