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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10
Autoren: Ake Edwardson
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Vater. Ich habe auch die Mutter gefragt.«
    Winter hielt den Brief hoch, eine Kopie. Wort für Wort wie das Original. Zehn Zeilen. Darüber: An Mario und Elisabeth.
    »Warum hat sie an die Eltern geschrieben? Warum an sie?«
    »Paula war nicht verheiratet«, sagte Ringmar.
    »Antworte auf die erste Frage«, sagte Winter.
    »Ich habe keine Antwort.«
    »Wurde sie gezwungen?«
    »Ganz bestimmt.«
    »Wissen wir, ob sie diesen Brief nach ihrem Verschwinden geschrieben hat, oder wie wir es nun nennen wollen? Nachdem sie sich von ihrer Freundin auf dem Grönsakstorget getrennt hat?«
    »Nein, aber wir gehen davon aus.«
    »Wir bringen den Brief mit dem Mord in Zusammenhang«, sagte Winter. »Aber vielleicht geht es um etwas anderes.«
    »Und was sollte das sein?«
    Sie waren mitten in ihrer Routine, der Methode, zu fragen und zu antworten und wieder zu fragen, in einem Strom des Bewusstseins, der sich vorwärts bewegen würde, oder auch rückwärts, in irgendeine Richtung, nur stillstehen durfte er nicht.
    »Vielleicht wollte sie etwas loswerden«, sagte Winter. »Sie konnte es ihnen nicht ins Gesicht sagen. Etwas ist passiert. Sie wollte es erklären oder suchte Versöhnung. Oder sie wollte sich nur melden. Sie wollte für eine Weile weg von zu Hause. Sie wollte nicht bei den Eltern bleiben.«
    »Das ist doch Wunschdenken«, wandte Ringmar ein.
    »Wie bitte?«
    »Die Alternative ist einfach zu schrecklich.«
    Winter antwortete nicht. Natürlich hatte Ringmar Recht. Winter hatte versucht, sich die Szene vorzustellen, weil es ein Teil seines Jobs war, und möglicherweise hatte er die Augen verschlossen vor dem, was er sah: Paula vor einem Blatt Papier, jemand hinter ihr, über ihr. Ein Stift in ihrer Hand. Schreib. Schreib!
    »Sind das ihre eigenen Worte?«, fragte Ringmar.
    »Wurde es ihr diktiert?«, fragte Winter zurück.
    »Oder durfte sie schreiben, was sie wollte?«
    »Ich glaube, ja«, sagte Winter und las wieder den ersten Satz.
    »Warum?«, fragte Ringmar.
    »Es ist zu persönlich.«
    »Vielleicht drückt sich darin die Persönlichkeit des Mörders aus.«
    »Du meinst, es ist seine Botschaft an die Eltern?«
    Ringmar zuckte mit den Schultern.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Winter. »Es sind ihre Worte.«
    »Ihre letzten Worte«, sagte Ringmar.
    »Wenn nicht noch mehr Briefe auftauchen.«
    »Mist«
    »Was meint sie wohl damit, wenn sie um Entschuldigung bittet?« Winter las den Brief erneut.
    »Genau das, was sie schreibt«, sagte Ringmar. »Dass sie um Entschuldigung bittet, sollte sie die Eltern verärgert haben.«
    »Fällt einem das als Erstes ein, wenn man einen derartigen Brief schreibt? Würde sie so denken?«
    »Denkt man überhaupt?«, fragte Ringmar. »Sie weiß, dass sie in einer ausweglosen Situation ist. Sie bekommt den Befehl, einen Abschiedsbrief zu schreiben.« Er rutschte wieder auf seinem Stuhl herum, bewegte ihn dabei aber nicht von der Stelle. »Ja. Schon möglich, dass in dem Moment Schuldgefühle auftauchen. Genauso wie der Gedanke an Versöhnung.«
    »Gab es eine Schuld? Ich meine, eine richtige Schuld?«
    »Nach Aussage der Eltern nicht. Da sei nichts … tja, nichts, was über das Normale zwischen Kindern und Eltern hinausging. Keine alte Fehde oder wie man das nennen soll.«
    »Aber Genaueres wissen wir nicht«, sagte Winter.
    Ringmar stand auf, trat ans Fenster und spähte durch die Ritzen der Jalousie. Der Wind bewegte die schwarzen Baumkronen am Fluss. Über den Häusern am anderen Ufer war ein mattes Licht, ganz anders als der klare Schimmer in einer Hochsommernacht.
    »Ist dir so was schon mal untergekommen, Erik?«, fragte Ringmar, ohne sich umzudrehen. »Ein Brief von … der anderen Seite.«
    »Der anderen Seite?«
    »Na hör mal.« Ringmar wandte sich zu ihm um. »Das arme Ding weiß, dass es ermordet werden soll, und schreibt einen Brief über Liebe, Versöhnung und Vergebung, und dann kriegen wir einen Anruf aus diesem lausigen Hotel, und das Einzige, was wir tun können, ist, hinzufahren und aufzunehmen, was passiert ist.«
    »Du bist nicht der Einzige, der frustriert ist, Bertil.«
    »Also – ist dir so was schon mal untergekommen? Ein Abschiedsbrief in dieser Form?«
    »Nein.«
    »Geschrieben von einer Hand, die hinterher angestrichen wurde? Weiß angemalt wurde? Als ob sie … nicht mehr zum Körper gehörte?«
    »Nein, nein.«
    »Was zum Teufel geht hier vor, Erik?«
    Winter stand schweigend auf. Er spürte einen scharfen Schmerz im Nacken und in einer Schulter. Er hatte
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