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Zelot

Zelot

Titel: Zelot
Autoren: Reza Aslan
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als man gemeinhin annimmt, nicht sarkastisch gemeint. Jeder Verbrecher, der an einem Kreuz hing, bekam eine Tafel, auf der das genaue Verbrechen verzeichnet war, für das er hingerichtet wurde. Jesu Verbrechen bestand in den Augen Roms darin, dass er eine Königsherrschaft angestrebt (sich also des Verrat schuldig gemacht) hatte, genau wie fast alle anderen messianischen Aspiranten, die deswegen getötet wurden. Und Jesus starb nicht allein. Die Evangelien behaupten, dass links und rechts von Jesus Männer hingen, die auf Griechisch
lestai
genannt wurden, ein Wort, das im Deutschen oft mit «Diebe» wiedergegeben wird, eigentlich aber «Banditen» oder «Straßenräuber» bedeutet und die häufigste römische Bezeichnung für Aufständische oder Rebellen war.
    Drei Rebellen auf einem mit Kreuzen überzogenen Hügel, wobei jedes Kreuz den gepeinigten und blutbefleckten Leib eines Mannes trug, der es gewagt hatte, dem Willen Roms zu trotzen. Schon dieses Bild allein kann Zweifel an der Darstellung der Evangelien aufkommen lassen, denen zufolge Jesus ein Mann des bedingungslosen Friedens war, der fast völlig isoliert von den politischen Unruhen seiner Zeit agierte. Die Vorstellung, dass der Kopf einer populären messianischen Bewegung, die für die Errichtung des «Gottesreiches» eintrat – ein Begriff, der in den Augen von Juden wie von Heiden eine Revolte gegen Rom beinhaltete –, von dem religiösen Eifer, der fast alle Juden in Judäa erfasst hatte, unbeeinflusst bleiben konnte, ist schlichtweg lächerlich.
    Warum also gaben sich die Verfasser der Evangelien solche Mühe, das Revolutionäre in Jesu Botschaft und Bewegung abzuschwächen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst klar machen, dass fast alle Evangeliengeschichten über das Leben und die Mission des Jesus von Nazaret
nach
dem Jüdischen Aufstand gegen Rom im Jahr 66  n. Chr. niedergeschrieben wurden. In jenem Jahr rief eine Gruppe jüdischer Rebellen, angespornt durch den Eifer für Gott, ihre Glaubensbrüder zu einer Revolte auf. Wie durch ein Wunder gelang es den Aufständischen, das Heilige Land von der römischen Besatzung zu befreien. Vier ruhmreiche Jahre lang war die Stadt Gottes wieder in jüdischer Hand. Doch 70  n. Chr. kehrten die Römer zurück. Nach einer kurzen Belagerung Jerusalems durchbrachen die Soldaten die Stadtmauer und gingen in einer Gewaltorgie gegen die Bewohner vor. Sie ermordeten alle, die ihnen in die Hände fielen, und häuften die Leichen auf dem Tempelberg auf. Das Blut floss in Strömen die gepflasterten Straßen hinab. Als sie ihren Blutdurst gestillt hatten, steckten die Soldaten den Tempel Gottes in Brand. Das Feuer verbreitete sich über den Tempelberg hinaus, verschlang Jerusalems Weiden, die Gehöfte, die Ölbäume. Alles brannte. Die Heilige Stadt war so verheert, dass es, wie Josephus schreibt, kein Zeugnis mehr gab, dass Jerusalem je bewohnt gewesen war. Zehntausende Juden waren gestorben. Der Rest verließ die Stadt in Ketten.
    Das seelische und geistliche Trauma der Juden infolge dieser Katastrophe kann man sich kaum vorstellen. Vertrieben aus dem ihnen von Gott verheißenen Land, gezwungen, als Ausgestoßene unter den Heiden des Römischen Reiches zu leben, trennten die Rabbinen des 2 . Jahrhunderts allmählich und planvoll das Judentum vom radikalen messianischen Nationalismus, der zum verhängnisvollen Krieg mit Rom geführt hatte. Die Tora ersetzte den Tempel als Mittelpunkt des jüdischen Lebens, und das rabbinische Judentum entstand.
    Auch die Christen verspürten die Notwendigkeit, sich von dem revolutionären Eifer zu distanzieren, der zur Plünderung von Jerusalem geführt hatte, nicht nur, weil dies der frühen Kirche erlaubte, den Zorn des überaus rachsüchtigen Rom abzuwenden, sondern auch, weil die Römer, nachdem die jüdische Religion zur Außenseiterreligion geworden war, die vorrangigen Adressaten ihrer Missionstätigkeit waren. So begann der lange Prozess, in dem Jesus sich von einem revolutionären jüdischen Nationalisten in einen friedlichen geistlichen Anführer ohne jedes Interesse an irdischen Dingen verwandelte. Dies war ein Jesus, den die Römer akzeptieren konnten und tatsächlich auch drei Jahrhunderte später akzeptierten, als der römische Kaiser Flavius Theodosius († 395 ) die Bewegung des jüdischen Wanderpredigers zur offiziellen Staatsreligion erhob.
    Dieses Buch ist ein Versuch, den Jesus der Geschichte, den Jesus
vor
dem Christentum, so weit wie
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