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Zelot

Zelot

Titel: Zelot
Autoren: Reza Aslan
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seit Jahren unter Jesu frühesten Anhängern kursierten. Indem er diesem Überlieferungswust ein chronologisches Gerüst gab, schuf Markus das ganz neue literarische Genre des
Evangeliums
, griechisch für «gute Nachricht». Doch das Markus-Evangelium ist in den Augen vieler Christen zu kurz und irgendwie unbefriedigend. Die Kindheitserzählungen fehlen; Jesus taucht einfach eines Tages am Ufer des Jordan auf, um sich von Johannes dem Täufer taufen zu lassen. Und auch die Erscheinungen nach der Auferstehung fehlen. Jesus wird gekreuzigt. Sein Leichnam wird in ein Grab gelegt. Ein paar Tage später ist das Grab leer. Schon die frühesten Christen vermissten so einiges in Markus’ knappem Bericht über Jesu Leben und Wirken, und so blieb es dessen Nachfolgern Matthäus und Lukas überlassen, den ursprünglichen Text zu überarbeiten.
    Zwei Jahrzehnte nach Markus, zwischen 90 und 100  n. Chr., brachten die Verfasser des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums, die unabhängig voneinander und mit Markus’ Text als Vorlage arbeiteten, die Geschichte des Evangeliums auf den neuesten Stand, indem sie ihre eigenen, besonderen Überlieferungen einarbeiteten, darunter zwei verschiedene und einander widersprechende Kindheitserzählungen sowie eine Reihe ausgeschmückter Auferstehungsgeschichten, um ihre christlichen Leser zufriedenzustellen. Matthäus und Lukas stützten sich auch auf eine wohl frühe und ziemlich weit verbreitete Sammlung von Jesusworten, die die Wissenschaft als Logienquelle (abgekürzt Q für Quelle) bezeichnet. Wir haben diesen Text zwar heute nicht mehr vorliegen, aber wir können seine Inhalte erschließen, indem wir jene Verse zusammenstellen, die sich bei Matthäus und Lukas finden, nicht aber bei Markus.
    Zusammen werden diese drei Evangelien – Markus, Matthäus und Lukas – als die
synoptischen
(griechisch für «zusammenschauen») Evangelien bezeichnet, weil sie eine mehr oder weniger gleiche Darstellung und Chronologie des Lebens und Wirkens Jesu liefern, die wiederum der des vierten, des zwischen 100 und 120  n. Chr. entstandenen Johannes-Evangeliums, in vielem widerspricht.
    Damit hätten wir die kanonischen Evangelien. Aber sie sind nicht die einzigen. Heute haben wir Zugang zu einer ganzen Bibliothek nichtkanonischer Schriften, die meist aus dem 2 . und 3 . Jahrhundert stammen und einen ganz anderen Blick auf das Leben des Jesus von Nazaret werfen. Dazu gehören das Thomas-Evangelium, das Philippus-Evangelium, das Apokryphon des Johannes, das Evangelium der Maria Magdalena und eine Menge anderer sogenannter gnostischer Schriften, die 1945 in Oberägypten nahe der Stadt Nag Hammadi entdeckt wurden. Diese Bücher fanden keine Aufnahme in die Sammlung, die schließlich das Neue Testament bildete, aber sie sind von Bedeutung, weil sie dramatische Meinungsverschiedenheiten offenbaren, wenn es darum ging, wer Jesus war und was Jesus bedeutete – und das selbst unter jenen, die von sich behaupteten, sie seien mit ihm gezogen, hätten das Brot mit ihm geteilt und mit ihm gespeist, hätten seinen Worten gelauscht und mit ihm gebetet.
    Letztendlich sind es nur zwei harte historische Fakten in Bezug auf Jesus von Nazaret, auf die wir uns wirklich verlassen können: zum einen, dass Jesus ein Jude war, der eine jüdische Volksbewegung in Palästina zu Beginn des 1 . Jh.s n. Chr. anführte, und zum anderen, dass Rom ihn deshalb ans Kreuz schlug. Für sich genommen können diese beiden Fakten kein vollständiges Porträt eines Mannes bieten, der vor zweitausend Jahren lebte. Wenn wir sie aber mit allem anderen kombinieren, was wir über die unruhige Zeit wissen, in der Jesus lebte – und dank der Römer wissen wir eine Menge darüber –, können diese beiden Fakten helfen, ein Bild des Jesus von Nazaret zu zeichnen, das vielleicht historisch genauer ist als das der Evangelien. Tatsächlich hat der Jesus, dessen Bild bei dieser historischen Fingerübung entsteht – ein eifernder Revolutionär, der wie alle Juden jener Zeit in die religiösen und politischen Wirren Palästinas im 1 . Jahrhundert hineingezogen wurde –, wenig Ähnlichkeit mit dem Bild des guten Hirten, das die frühchristliche Gemeinde pflegte.
    Man muss bedenken, dass die Strafe der Kreuzigung in römischer Zeit fast ausschließlich Aufständischen vorbehalten war. Die Tafel, die die Römer über Jesu Kopf anbrachten, während er sich in Schmerzen wand – «König der Juden» –, wurde
titulus
genannt und war, anders
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