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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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nicht, dass ich Ihnen schreibe. Ich glaube, ich bin Ihre Tochter. Mein Name ist Miranda, und ich habe einen Zwillingsbruder, Mark. Ich wollte Sie schon so lange finden und habe meiner Mom ständig damit in den Ohren gelegen. Dann hat ein netter englischer Arzt, der sich unser Krankenhaus ansah, meiner Mom geholfen, Sie in einem medizinischen Verzeichnis zu finden.
    Falls Sie meine Mom (Sheila Hailey) vergessen haben sollten: Sie ist die schöne Dame, die Sie geliebt haben, als Sie in Moose Creek wohnten (es ist ein Drecknest, darum kann ich es Ihnen nicht verdenken, dass Sie fortgefahren sind, wirklich nicht). Da ich nun alt genug bin (fast dreizehn), hat sie mir alles erzählt. Wie Sie nach England zurückkehren mussten und wie Sie beide nicht heiraten konnten und so. Es ist solch eine traurige Geschichte. Ich habe das alles in einem Aufsatz für die Schule beschrieben. Ich habe ihn »Eine Liebesgeschichte« genannt und ein A dafür bekommen. Miss Basiak war ganz begeistert.
    Bitte schreiben Sie mir oder rufen Sie mich an, sobald Sie diesen Brief bekommen.
    In Liebe
    Miranda
    Darunter stand eine Postfachnummer in Moose Creek und eine Telefonnummer.
    Dafydd blieb eine Weile regungslos vor der Spüle stehen. Zwei-, dreimal las er den Brief, ohne den Inhalt zu begreifen. Dann spürte er seine Füße. Die Kälte der Bodenfiesen hatte sie taub werden lassen, als stünde er auf blankem Eis.
    Er blickte hinab und sah erfrorene Zehen, geschwollen und mit Frostbeulen übersät; die Füße hatten sich durch das absterbende Gewebe verschwärzt. Ein Mädchen, halbnackt und erstarrt im Schnee … der schöne, endlose Schnee. Am Rande dieser blendenden Weiße flimmerten die klaren Umrisse eines kleinen Fuchses, ein Schattenwesen seines Gewissens. Ein alter Mann, ein Inuit-Schamane, hatte ihn ermahnt, seine Gegenwart stets zu beachten. Dafydds Herz begann zu rasen. Dies gehörte zu einer seltsamen Episode seiner Vergangenheit, und plötzlich empfand er eine unerklärliche Angst.
    »Hey!« Isabels von oben kommende Stimme ließ ihn hochschrecken. »Der Kaffee riecht gut.«
    »Ich komme«, rief er zurück. Er steckte den Brief in die Tasche seines Bademantels und kehrte zu seiner morgendlichen Routine zurück.
    Isabel lächelte versöhnlich, als er ihr einen Becher mit Kaffee reichte, aber er nahm ihren reumütigen Gesichtsausdruck nicht wahr. Seine Gedanken waren bei dem Brief. Sie rasten und überflogen eine Unzahl nur noch halb erinnerter Details. Sheila Hailey … Das war verrückt … unmöglich.
    »Hör mal, Schatz. Ich weiß, ich war …«, begann Isabel und hielt inne. »Was ist?«
    Sein Entschluss, den merkwürdigen Brief für sich zu behalten, brach in sich zusammen. Seine Vergangenheit war das eine, aber er war außerstande, ihr Dinge in der Gegenwart zu verheimlichen.
    »Ich habe einen Brief bekommen. Es scheint, dass man mich mit einem anderen verwechselt hat.«
    »Das kann doch wohl kaum sein.« Sie reckte den Kopf und lächelte ihn an. »Wie viel ist es denn, und zu welchem Satz?«
    Mein Gott. Das war nicht gerade witzig. Er ließ sich neben sie aufs Bett fallen. »Halt dich fest. Es ist ziemlich seltsam.« Zögernd zog er den Umschlag aus seiner Tasche und reichte ihn ihr. »Schau mal, was du damit anfangen kannst.«
    Isabel sah ihn an und stellte den Becher auf den Nachttisch. Sie zog das dünne Papier aus dem Umschlag und entfaltete es. Er beobachtete ihr Gesicht, während sie den Brief rasch las und dabei mit den Lippen lautlos jedes Wort formte. Sie schwieg kurz und starrte nur das Papier an. Dann las sie den Brief erneut, diesmal laut. Sie las ihn mühelos, mit mädchenhafter Stimme und deutlich amerikanischer Aussprache. Sie war schon immer eine vorzügliche Imitatorin gewesen. Aber ihre Vorführung ging ihm auf die Nerven, und eine Sekunde lang fragte er sich, ob sie den Brief selbst geschrieben hatte. Eine Art Scherz. Oder ein Test. Aber sie war blass, ihre Lippen blutleer.
    Unvermittelt warf sie ihm den Brief in den Schoß. »Was ist das?«
    »Was hab ich dir gesagt?«
    Sie musterten einander einen Moment lang.
    »Wer ist diese Person?«
    Dafydd zuckte hilflos mit den Schultern.
    »Du hast eine schwangere Geliebte in Kanada zurückgelassen?«
    An seinem Hals bildeten sich rote Flecke. Er konnte sie spüren, kleine Hitzeexplosionen. Isabel bemerkte sie und durchbohrte ihn mit den Augen. Sie interpretierte die Flecke stets als Schuldeingeständnis, während er wusste, dass es sich dabei lediglich um
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