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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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wie der Postbote den Briefkastenschlitz berührte. Klickend öffnete sich die Klappe, und die Post ergoss sich mit einem Rauschen auf die Flurfiesen. Er sträubte sich, von einem staubigen, sonnendurchfluteten Ort mit einem klaren blauen Himmel zurückgeholt zu werden, aber die Anstrengung ließ ihn wie einen Korken im Wasser an die Oberfläche des Wachseins schnellen.
    Über die Umrisse von Isabels schlafendem Körper hinweg blickte er auf den Wecker. Es war kurz nach sieben. Isabel lag leicht schnarchend auf dem Rücken und hatte das Laken über den Kopf gezogen, um sich gegen das Licht abzuschirmen. Er tauchte unter die Decken, um sich ihr anzuschließen. Sie war fast genauso groß wie er, und ihre langen Beine verschwanden im Dämmerlicht des Fußendes.
    In der Dunkelheit betrachtete er ihre nackten Körper, die derselben Spezies angehörten, doch so unterschiedlich und laut medizinischer Forschung ziemlich inkompatibel waren. Zumindest wollte bei ihnen beiden die Vereinigung von Sperma und Ei nicht stattfinden, was auch immer sie auf unterschiedliche Weise und unter Anwendung fast aller vorhandenen Mittel versucht hatten. Rhys Jones, ein Reproduktionsspezialist mit beeindruckendem Renommee, hatte zögernd sein Scheitern eingestanden. Dann hatte er ihnen auf die Schultern geklopft und beruhigend gemeint, dass es noch immer zu einer Schwangerschaft auf natürlichem Wege kommen könne, wenn sie sich Zeit ließen und Geduld hätten und sich nach der Temperaturmethode und dem Kalender richteten.
    Aber Dafydd wusste, dass der Mann auf ein Wunder setzte. Sie waren schon über vierzig. Außerdem hatte er von dem Ganzen allmählich genug. Es zerstörte das bisschen Begierde, das noch zwischen ihnen übriggeblieben war. Das Band der Leidenschaft war von seiner Seite aus so brüchig geworden, dass es ihn erschreckte. Er hatte versucht, es ihr zu sagen – dass etwas Wesentliches verlorengegangen war und dass er sich jetzt als zu alt empfand, um noch Vater zu werden. Aber Isabel ließ sich von ihrem Vorhaben, mit aller Gewalt weiterzumachen, nicht abbringen.
    Er verließ das Bett, zog seinen Bademantel über und ging nach unten. In der Küche setzte er den Kessel auf und zog die Vorhänge zurück. Das Wetter war trüb. Ein typischer nieseliger Morgen in Cardiff. Abgestorbenes Laub klebte an der nassen Fensterscheibe, und auf der Fensterbank hatte sich grüner Schimmel gebildet. Dafydd konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal die Sonne gesehen hatte. Dabei war es angeblich noch Sommer. Er schüttete eine Kelle Kaffeebohnen in die Mühle und lauschte dem rasenden Mahlgeräusch, während er gleichzeitig nach seiner Frau horchte. Er war sicher, dass dieser Ton Tote erwecken musste. Aber von oben war kein Laut zu hören. Er atmete das stechende Aroma ein, diese widersprüchliche Mischung aus mediterraner Strandbar und morgendlichen Verpflichtungen.
    Während der Kaffee durchlief, ging Dafydd nach vorn, um die Post aufzuheben. Über den Flurboden verstreut lag der übliche entmutigende Haufen. Er sammelte ihn auf und sortierte die Post in drei Stapel auf dem Flurtisch: ihren, seinen und Müll. Ihrer war bei weitem der größte und entsprach dem Arbeitsandrang, der sie erwartete. Doch die Rechnungen schienen alle auf seinen Namen ausgestellt zu sein.
    Er nahm seine Handvoll Umschläge mit in die Küche. Sie enthielten unter anderem die Themenpunkte für die Rede, die er in Bristol zu halten versprochen hatte – eine lästige Angelegenheit, die umfangreiche Recherchen erforderlich machte. Flüchtig sah er den Rest durch. Das einzige Schreiben, das ein leichtes Interesse bei ihm weckte, war ein babyblauer Umschlag aus dünnem Luftpostpapier, der in einer seltsam kindlichen Handschrift an ihn adressiert war. Er warf einen prüfenden Blick auf die ungewohnte Briefmarke. Sie kam aus Kanada. Der Stempel lautete klar und deutlich: Moose Creek, Northwest Territories.
    »Moose Creek?«, rief er unwillkürlich und starrte auf den Poststempel. Er drehte den Brief um. Ein glänzender Aufkleber in Form eines blauen Elefanten versiegelte die Umschlagklappe. Vielleicht hatte jemand etwas ausgegraben, was er liegengelassen hatte, oder irgendwer meldete sich mal wieder, um ihn an alte Zeiten zu erinnern. Nach all diesen Jahren? Beim Gedanken daran spannte sich sein Bauch ein wenig, und er schlitzte die Kante des zartblauen Umschlags mit dem Zeigefinger auf.
    Sehr geehrter Herr Dr. Woodruff,
ich hoffe, Sie verübeln mir
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