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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln
Autoren: Alex Haley
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immer setzte der Regen ein, warm und sanft. Die Männer zogen mit der Hacke lange, tiefe Furchen, welche die Saat aufnehmen sollten. Dies mußte vor dem Einsetzen der heftigen Regenfälle getan werden.
    An den folgenden Morgen fuhren die Frauen nicht zu ihren Reisfeldern, sondern zogen das Fruchtbarkeitskostüm an, bestehend aus großen frischen Blättern, deren Grün das Wachstum symbolisierte, und folgten den Männern aufs Feld. Auf den Köpfen trugen sie Schalen mit Erdnuß- und Maissamen, und noch bevor die Männer ihre Frauen zu Gesicht bekamen, hörten sie sie die althergebrachten Gebete singen, mit denen sie darum baten, daß die Keime Wurzeln schlagen und gut wachsen möchten.
    Die Frauen gingen hintereinander dreimal um alle Felder herum, dann löste sich die Reihe auf, und jede gesellte sich zu ihrem Mann, der nun die Furchen abschritt und alle Handbreit mit dem großen Zeh ein Loch in den Boden machte. Dahinein ließen die Frauen den Samen fallen, schoben mit dem Zeh Erde darüber und gingen weiter. Die Frauen arbeiteten schwerer als die Männer; nicht nur halfen sie diesen, sie mußten auch ihre Reisfelder bestellen und die Gemüsegärten, die sie in Küchennähe anlegten.
    Während Binta mit Zwiebeln, Yams, Kürbissen, Kassava und bitteren Tomaten beschäftigt war, spielte der kleine Kunta sorglos unter den wachsamen Augen mehrerer Großmütter, die alle Kinder aus Juffure beaufsichtigten, die in den ersten kafo gehörten, das heißt alle, die jünger waren als fünf Regen. Jungen wie Mädchen tollten splitternackt wie junge Tiere umher; manche konnten noch kaum sprechen. Alle wuchsen rasch, sie jagten einander lachend und quietschend um den großen Stamm des mächtigen Affenbrotbaumes in der Dorfmitte, spielten Verstecken, balgten sich mit Hunden und Hühnern, daß die Federn flogen.
    Alle Kinder, auch Kunta, wurden aber gleich mucksmäuschenstill, wenn eine der alten Frauen ihnen eine Geschichte zu erzählen versprach. Kunta verstand zwar noch längst nicht alle Wörter, doch hörte er mit großen Augen zu, wenn eine der alten Frauen ihre Geschichte mit Gesten und Geräuschen untermalte, die den Anschein erweckten, als spiele sich hier und jetzt ab, was sie da erzählte.
    Kunta war noch klein, doch kannte er bereits einige solcher Geschichten, die ihm Großmutter Yaisa erzählt hatte, wenn er sie besuchte und die beiden allein waren. Allerdings zog er ebenso wie seine Altersgenossen die sonderbare alte Nyo Boto als Geschichtenerzählerin allen anderen vor. Diese geheimnisvolle Greisin, haarlos, mit tiefen Runzeln im Gesicht, das schwarz war wie ein Kochtopf, einen Halm Zitronengras im Mund wie den Fühler eines Insekts, die wenigen Zahnstummel rot von zahllosen Kolanüssen, an denen sie im Laufe ihres Lebens gekaut hatte, ließ sich dazu ächzend auf einem Schemel nieder, und wenn sie sich auch schroff gab, so wußten doch die Kinder, daß Nyo Boto sie alle liebte wie ihre eigenen, und sie behauptete ja auch, sie alle seien ihre leiblichen Kinder.
    Umringt von den Kindern, knurrte sie dann: »Nun, dann laßt mich eine Geschichte erzählen …«
    »Ach bitte, bitte, ja!« riefen die Kinder im Chor, zappelnd vor freudiger Erwartung.
    Dann begann Nyo Boto, wie alle Geschichtenerzähler der Mandinka ihre Geschichten begannen: »Zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Dorf lebte ein bestimmter Mensch.« Diesmal handelte es sich um einen Knaben, der eines Tages am Ufer auf ein Krokodil stieß, das sich in einem Netz verfangen hatte.
    »Hilf mir!« rief das Krokodil.
    »Damit du mich frißt?« sagte der kleine Junge.
    »Nein, komm näher«, sagte das Krokodil.
    Der Junge kam wirklich näher, und schon wurde er von dem Krokodil mit der langen Schnauze erfaßt.
    »Du vergiltst mir also meine Güte mit Schlechtigkeit?« empörte sich der kleine Junge.
    »Selbstverständlich«, sagte das Krokodil aus den Winkeln seines Maules heraus. »So geht es nun mal zu auf der Welt.«
    Der Junge mochte das nicht glauben, also erklärte das Krokodil sich bereit, die ersten drei Geschöpfe, die des Weges kämen, um ihre Meinung zu dieser Sache zu befragen. Als erster kam ein alter Esel vorüber. Als der Junge ihn fragte, was er zu der Handlungsweise des Krokodils meine, sagte der Esel: »Ich bin jetzt alt und kann nicht mehr arbeiten, und was tut mein Herr? Er jagt mich weg, damit mich die Leoparden fressen.«
    »Siehst du?« sagte das Krokodil. Als nächstes kam ein altes Pferd vorüber, und das war der gleichen
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