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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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Tür zu kalt ist. Auch Friedrich wird dort sein. Ohne die Augen zu öffnen, drückt Vera mit dem Rücken den Warmwasserknopf. Die Freunde mögen den alten Film. Friedrich wahrscheinlich auch, schließlich hat er wie sie darin mitgespielt. Aber Karatsch hängt richtig an dem alten Streifen. Warum eigentlich? Wieder drückt sie mit dem Rücken den Warmwasserknopf. Löst sich in den alten Filmbildern, in dieser unreinen, körnigen Struktur einer immer zu dunkel eingestellten Wiedergabe am letzten Tag des Jahres auf, was das Jahr über war? Ist es das, was Karatsch so gefällt? Löst sich so Jahr für Jahr das soeben vergangene auf wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet? Neben sich hört Vera die Frau in den Flipflops noch immer duschen. Ja, die Zeit vergeht, der Film bleibt, und Karatsch ist wirklich ein Schwein. Den alten Film schaut er so inbrünstig an, weil er noch immer die Tochter Vera liebt, nicht seine Frau Vera. Wenn er mit ihr schläft, betrügt er Vera mit der Vera von früher, mit jenem mageren, hübschen, räudigen kleinen Ding, das sie einmal war. Wieder drückt Vera mit dem Rücken den Warmwasserknopf. Geahnt hat sie das immer. Gewusst auch, wenigstens bis zu der Grenze, bis zu der man so ein Wissen zulässt. Gewehrt hat sie sich nie. Ohne die Augen zu öffnen merkt sie, wie die Dusche nebenan sich abstellt und die schwimmbadgrünen Flipflops zur Tür schlappen.
    Ich verschwinde dann mal, ruft die Frau. Wie fröhlich das bis zu ihr herüberklingt, diese Sache mit dem Verschwinden.
    Guten Rutsch.
    Danke.
    Die Schwingtür schwingt nach, während sich die Schritte auf dem Gang mit einem schmatzenden Geräusch entfernen. Wie zufrieden das klingt. Vera öffnet die Augen, jetzt, wo das Wasser über ihrem Kopf sich ebenfalls abgestellt hat. Sie steht da, verlassen im Dampf des Duschraums. Nur das Zitronenduschgel ist noch da. Vergessen? Geschenkt?
    Egal.
    Ich geh dann auch mal verschwinden, sagt sie laut und greift nach dem Duschgel.
    Ob es das gibt, dass man sich Sommersprossen tätowieren lässt?
    9.
    Meine Damen und Herren, sagt Friedrich an seinem Frühstückstisch leise und geht die Rede an die Belegschaft noch einmal durch. Dabei merkt er, dass er Mohn zwischen den Zähnen hat, vom Brötchen. Er kramt mit der Zunge im Mund herum, steht auf, geht zum Esszimmerfenster und legt die Stirn an die Scheibe, so wie er es als Junge gemacht hat, wenn ihn eine große Sehnsucht hinter den Augen drückte. Er ist seit wenigen Wochen der neue Chef von Warenhaus Wünsche. Vor allem ein christlicher Unternehmer, sagt er, so einer, wie mein Großvater einer war und mein Vater ebenfalls, weiß aufgrund seines geschärften Gewissens, dass funktionale Macht nie zu personaler Macht entarten darf, denn in der Tradition von Haus Wünsche wird das unternehmerische Gewinnstreben geadelt durch den Willen zum Dienen! Eine schön formulierte Lüge, weiß er. Gerade der Großvater war ein Ausbeuter.
    Aber ich bin kein Patriarch mehr, auch wenn ich jetzt das Familienerbe antrete und mir sogar das Vokabular von Vater und Großvater ausleihe, platzt es aus ihm heraus.
    Seine Stirn hat einen milchigen Fleck auf der Scheibe hinterlassen, als er zum Frühstückstisch zurückgeht. Die Wurstscheiben sind bereits welk, das Ei ist kalt, die Kaffeemaschine seit einer Stunde verstummt, und selbst das Radieschen neben den Käsescheibletten hat etwas Kurzatmiges in seinem Rot. Wenn Stilti Knalles, das Dienstmädchen der Wünsches, noch lebte, wäre das nicht passiert.
    Stilti Knalles: Als es zwischen Mutter Martha und dem Vater damals den Streit über die Einstellung des Dienstmädchens gab, saß Friedrich mit dabei. Aber unter dem Tisch. Er war vier. Nein, sagte Mutter Martha, die nehmen wir nicht. Doch, genau die, sagte Vater Manfred, die stiehlt, aber die kann alles.
    Stilti Knalles? Hatte Friedrich richtig verstanden? Er hatte sich sofort in diese gut riechende Frau verliebt. Zur Probeaufnahme für den Film war Friedrich damals auch nur gegangen, weil Stilti Knalles ihm half. Nein, hatte Mutter Martha gleich gesagt, Film ist nur was für Proleten. Das war an einem Montag. Montags war Fensterputztag. Stilti Knalles kam auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Mutter und Sohn ins Wohnzimmer, öffnete ein Fenster, bückte sich unendlich langsam über den Putzeimer, wrang das Leder aus und glitt träge, zäh und rosig wie eine Schnecke die drei quietschenden Stufen der Trittleiter hinauf. Weit draußen auf dem blauen Meer / erklingt ein Lied von
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