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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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streift einen der Flipflops ab und stemmt einen kleinen, aber sehr kräftigen linken Fuß beinahe schulterhoch gegen die Kachelwand. Sie seift ihn ein. Jetzt riecht es nach Zitrone.
    6.
    Als Karatsch alle Stühle für sein Heimkino aufgestellt hat, greift er nach der Fernbedienung und holt die Brille aus der Bademanteltasche. Der Beamer, den sich Karatsch und Vera gegenseitig zu Weihnachten geschenkt haben, hat seit dem Heiligen Abend die hässliche Zimmerpalme vom Blumenhocker verdrängt. Auf der weißen Wand über Karatschs Kamin wird am Nachmittag wie an jedem letzten Nachmittag des Jahres der alte Film laufen, in dem Vera vor über dreißig Jahren eine der Hauptrollen gespielt hat. Karatsch drückt nervös auf der Fernbedienung herum. Herrisch, damit der Sohn die Verunsicherung nicht bemerkt, ruft er: Hallo? Leiser fügt er an: Bitte komm mal, hallo, bitte.
    Er sei ein Schwein, sagen sogar die, die behaupten, sie seien seine Freunde. Ja, er ist ein Schwein, aber ein kluges, freundliches, sanftes und manchmal auch verständiges Schwein, das mal ausgezeichnet Saxofon gespielt hat, als es noch ein junges Schwein war. Das ist Mitte der Sechziger gewesen. Saxofon hat er schon gespielt, als er noch mit seiner Mutter in der Sozialbauwohnung lebte, die Haare nach vorn gekämmt, und mit einer Arzttasche herumlief, um allen zu zeigen, dass er was Besseres war und etwas noch viel Besseres werden würde. Damals war er Existenzialist. Saxofon und Arzttasche kamen ihm beim Umzug in den Bungalow, der Suse gehörte, abhanden. Der Existenzialismus auch, spätestens als sie heirateten. Die Haare kämmte er nicht mehr nach vorn. Er hatte keine mehr. Mit jugendlichem Elan betrieb er trotzdem seine Konzertagentur für Jazzmusiker. Erst hatte er nur ein Büro im Keller, aber bald schon eine ganze Etage in der Stadt, günstig gelegen über dem Eiscafé Venezia am Bahnhof, wo er beim doppelten Espresso und ab 18   Uhr mit scharfem Nardini seine geschäftlichen Besprechungen führte. Er gründete ein eigenes kleines Schallplattenlabel, wurde fast reich und nahm mit seiner Frau Suse ein Mädchen in Pflege. Vera wurde an dem Silvestermorgen, als sie zu Karatsch und Suse zog, dreizehn. Suse schaute sie lange an und sagte am Abend zu Karatsch: Adoptieren werden wir sie nicht. Du weißt ja nie, in welche Situation du noch einmal kommst.
    Ich?, hatte Karatsch gefragt. Wieso ich?
    Ab da wurde jedes Silvester mit einer großen Einladung an die Freunde gefeiert: Unsere Tochter Vera hat Geburtstag! Wir laden ein zu Sekt und Mettbrötchen. Suse und Karatsch! Jahre vergingen. Als sie achtzehn wurde, hatten sie im Bungalow auf halbem Hang damit angefangen, den alten Film zu zeigen. Im Jahr darauf verließ Vera die Stadt, um in der nächstgrößeren auf Lehramt zu studieren und danach an einer Berufsschule zu unterrichten. Ihr Zimmer im Haus behielt sie. Das Klappbett auch. Karatsch fuhr Vera oft besuchen. Mit dem Zug und allein. Mit den Tagen vergingen die Wochen, das Jahr und das nächste. Suse starb an einem Januarnachmittag. Kurz bevor sie ging, strich sie Vera über den Kopf, traurig und wütend zugleich, als wüsste sie nicht, welches Gefühl von beiden galt. Vera zog zurück in den Bungalow auf halbem Hang. Sieben Monate später kam das Kind. Ein Junge, Joseph, mit einem so kleinen Gesicht, dass es sich hinter den zwei Daumen von Karatsch verstecken konnte. Ein Frühchen, sagten die Leute im Ort. Das Kind, sagten sie, war die Konsequenz aus einer jener Nächte kurz vor Suses Tod, in der die Einsamkeit auf allen dreien gelastet hatte. Karatsch hätte in jenen Nächten die Welt dafür gegeben, dass Suse blieb, vermuteten die einen. Aber die Welt wollte er auch haben, vermuteten die anderen. Und Vera dazu. Suse war weg. Die Einladungskarten zwischen den Jahren blieben. Nur der Text änderte sich: Wieder mal Silvester, Leute!!! Meine Frau Vera hat Geburtstag. Es gibt Sekt und Mettbrötchen. Gruß, Euer Karatsch.
    Jo kommt ins Wohnzimmer, und Karatsch drückt mit einem blinden Lächeln auf Pause, Play, Pause, Play, Pause, ohne dass der Beamer reagiert.
    Ob ich das noch erlebe, wäre doch zu schön, sagt Karatsch und streicht sich mit der Fernbedienung über seinen Bauch.
    Was wäre schön?
    Noch einmal jung zu sein, Sohn!
    Das bist du lang genug gewesen, Karatsch.
    Ja, aber ich war’s zu früh. Jetzt könnte ich endlich etwas damit anfangen. In meinem Alter sollte man jung werden, dann hätte man richtig was davon.
    Du bist fünfundsechzig, sei
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