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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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Schule. Zwei der drei Männer vom Film hatten die gleiche Frisur wie der Terrorist, der auch einmal Kameramann gewesen und im Hungerstreik gestorben war. Auf dem Pausenhof sah Vera die Männer wieder, als sie ihre Geräte aufbauten und Probeaufnahmen machten von blonden Mädchen. Wie alt bist du denn?, fragte plötzlich der mit den Narben im Gesicht und zwirbelte ihr eine Strähne zu einem Zopf.
    Zwölf, ich bin schon zwölf.
    Sieht aber jünger aus, die kleine Ratte, sagte der mit dem großen Heft, und jetzt stell dich mal hierher. Er schob sie vor die Kamera und sagte, sprich mir nach. Sag mal: He, Fatzer, kannste auch Mozart auf der Mundharmonika spielen?
    Vera wiederholte den Satz mit einem Gefühl, als hätte sie zu viele Zähne im Mund.
    Gut, und jetzt geh mal rüber zu meinem Kumpel da. Er zeigte auf den Mann mit den Narben im Gesicht. Frag ihn was, bevor er dich frisst.
    Was denn?
    Los, frag was.
    Vera lachte und schlug auf die behaarte Pranke des Mannes: Haste noch welche von die selber gemachten Klümkes, Omma?
    Im provisorischen Büro, das sonst das Hinterzimmer einer Billardkneipe war, riss Veras Mutter dem Produktionsleiter den Vertrag aus der Hand. Vera war für die großen Ferien unter Aufsicht und brachte am Ende Geld mit nach Hause. Die Mutter schnurrte wie eine vollgefressene Raubkatze, als sie die Kneipe verließen. Vera aber war ganz anders glücklich. Für einen langen Sommer durfte sie weg aus dem zugigen Haus der Mutter mit seinen schlecht verfugten Glasbausteinen neben der billigen Eingangstür. Die Miete wurde vom Sozialamt bezahlt, und niemandem, nicht mal dem blondierten Fräulein vom Amt, fiel auf, dass aus dem stillen Mädchen Vera ein trauriges Mädchen zu werden drohte. Es war die Art, wie alle am Set miteinander umgingen, die eine ganz andere Möglichkeit zu leben versprach. Sie ahnten, dass die Filmwirklichkeit eine Droge für sie sein könnte. Ja, Vera wäre gern beim Film geblieben, so wie andere gern zu Hause bleiben.
    Den Gang an den Spinden entlang folgt Vera der Frau in den schwimmbadgrünen Flipflops. Links die Sprühdüsen gegen Fußpilz, rechts die offenen Regale für Badehandtücher und Brillen, ein Erste-Hilfe-Schrank und schließlich ein Plastikstuhl, der mit ganzer Kraft die Tür zur Frauendusche aufhält. Dass nackte Menschen und kaltes Wasser zusammen einen Ort traurig machen, muss sie denken, als sie den Stuhl beiseite schiebt. Ein Rest Seife liegt im Abfluss unter der ersten Dusche, und das Büschel Haare im Gitter erinnert an irgendeine Frau, die heute Morgen schon hier gewesen sein muss. Vera hebt den Kopf. Nur eine von zwanzig Brausen ist in Betrieb und sprüht feinen Wassernebel auf die Frau mit den Flipflops. Vera drückt auf den Armaturknopf gleich daneben, und die Frau hört auf, sich die Achseln zu rasieren. Niemand sonst ist im Raum. Mit der Unverfrorenheit eines Kindes starrt Vera die Frau neben sich an. Mein Gott, was für herrliche Punkte, die irgendein Gott auf ihrem Gesicht ausgesät hat, damit sie nur Freude erntet. Was für ein Gesicht. Es ist nicht nur voller Sommersprossen, sondern auch voller heller Lichtsprenkel, die die Dezembersonne am letzten Tag des Jahres durch das Glasdach über ihnen auf die Haut wirft. Das Haar, das die Frau hinter die Ohren geklemmt hat, das Aufblitzen der Ohrringe, die sie zum Schwimmen nicht abgenommen hat, der Schatten des Lichts im Ausschnitt ihres Badeanzugs sind wie ein Angebot. Plötzlich hat Vera das Gefühl, sie könnte tatsächlich das Gesicht der anderen ausprobieren wie ein Kleid und dazu deren Leben, wie eine zweite Biografie, die genauso möglich gewesen wäre wie die, die zufällig ihre eigene geworden ist. Denn manchmal, wenn Vera mitten in der Nacht aufwacht, denkt sie, sie hat das Wichtigste im Leben vergessen. Wenn sie dann ganz wach ist, hat sie vergessen, was das Wichtigste war.
    Wasser läuft jetzt auf das Haar der Frau neben ihr und macht es glatt, glänzend und dunkler. Es rinnt weiter über Schultern und Brüste, um von dort in zwei schmalen Bächen über den Bauch und die Schenkel abwärtszulaufen und in einem anderen Abfluss zu verschwinden, in dem kein Büschel fremder toter Haare hängt. Und wieso riecht es in diesem Raum mit den Kalkspuren in den Kachelfugen nicht nach Chlor, sondern nach Kindern, die im See geschwommen sind? Vera fasst sich ins Gesicht. Es prickelt. Sind das die Sommersprossen, die bereits zu ihr herüberspringen?
    Ist was mit deinem Gesicht?, fragt die Frau neben ihr,
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