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Woodstock '69 - die Legende

Woodstock '69 - die Legende

Titel: Woodstock '69 - die Legende
Autoren: Frank Schaefer
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    Wie wenig er wirklich hierher passt, beweist für Diederichsen der letzte Song des Auftritts: »Freedom«, Havens’ auf den Anlass zugespitzte Adaption des Spirituals »Motherless Child«, die nach eigener Aussage ein bloßes Impromptu, eine Stehgreif-Improvisation gewesen sei – und die anekdotenhungrige Woodstock-Hagiographie hat ihm das gern abgekauft. Angeblich weiß Havens nach den vielen Zugaben, die man ihm abverlangt hat, einfach nicht mehr, was er spielen soll – aber bewegt von der Begeisterung Hunderttausender küsst er den Himmel bzw. ihn die Muse, und ihm gelingt dieses Kunststück. Kaum zu glauben, jedenfalls nicht für den, der sich mal genauer anhört oder noch besser ansieht, wie Havens und seine Mitstreiter »Freedom« präsentieren. Die Percussions setzen zielsicher, gleich nach dem ersten Takt ein, als wüssten sie, was jetzt kommt, umspielen das Riff leichtfingrig und timingstabil; der Wechselgesang gegen Ende wirkt wie ein dramaturgischer Kniff zur Affektsteigerung; und auch der ekstatische Schluss mit dem das Tempo anziehenden Congawirbel, der immer schön synchron das Gitarrengeschrammel untermauert, klingt wie ausgedacht und eingeübt. So tight spielt man einen Song kaum zum ersten Mal.
    Â»Freedom« nehme eine exponierte Rolle in der Woodstock-Mythologie ein, konstatiert Diederichsen zu Recht, »wohl schon allein deswegen, weil sein Text fast ausschließlich aus dem Wort besteht, das in der ganzen Welt verstanden wird: Freedom. Man sollte jedoch auch die beiden anderen Sätze nicht vergessen, die nach dem ausführlichen Chanten von Freedom gesungen werden, nämlich: ›Sometimes I feel like a motherless child‹, mehrfach wiederholt, und schließlich: ›A long, long way from my home.‹ Dann wieder: Freedom. Davor wälzen sich Leute nackt im Schlamm, die, von langen Staus etwas gebremst, soeben aufgebrochen waren, um so weit wie möglich wegzukommen von ihrem Heim wie von ihren Müttern.« 62
    Hier stimmt einiges nicht. Zum einen wälzt sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand nackt im Schlamm, vielmehr sitzen alle bei schönstem Sonnenschein auf der grünen Wiese – und spielen eine große glückliche Familie. Zum anderen sollte man eben nicht nur diese beiden Sätze nicht vergessen, sondern auch nicht die noch folgenden Zeilen des Songs, sonst fehlt nämlich die Pointe bzw. die Moral der Geschichte. Er modifiziert späterhin das »Sometimes I feel like a motherless child« zu »Sometimes I feel like I’m almost gone« und dann folgt einmal mehr die Klage »A long, long, long way way from my home, yeah«. Dann kommt der Mitklatschteil mit unzähligen »Clap your hands«, gefolgt von ebenso vielen »Hey« und »Yeah«, das bedeutet alles nicht viel – aber dann setzt er an zur conclusio: »I got a telephone in my bosom / And I can call him up from heart«. Und zwar immer: »When I need my brother« oder »When I need my father«, schließlich kommen auch noch »mother« und »sister« an die Reihe. Eine Heilsbotschaft! Im schwarzen Gottesdienst, wo dieser Song ja zunächst mal hingehört, meint das die Anrufung Gottes – in diesem säkularisierten Kontext: des gerechten Hippie-Geistes, der die reale durch die spirituelle Familie ersetzt. Und da sitzt sie ja auch schon beisammen, vor ihm auf der Wiese, in totaler Freiheit.
    In einem Punkt hat Diederichsen offensichtlich recht: Woodstock ist »nur die Übertragung der Organisationsform schwarzer Kultur auf die Jugendkultur: die symbolische Staatengründung des Gottesdiensts wird übertragen auf die symbolische Staatengründung der Woodstock Nation.« Aber dass auf diese Weise das »fundamentalste unter den produktiven Missverständnissen mitgeschleppt« wird, demzufolge »schwarze Verhältnisse« irgendetwas zu tun haben mit den Verhältnissen jener, »die schwarze Kultur und Musik bewundern«, darf man getrost bezweifeln. 63 Ich glaube nicht, dass die weißen Kids vor Ort und später in den Kinos wirklich an dem schwarzen Sediment des Songs zu partizipieren meinten – nicht einmal, dass sie überhaupt partizipieren wollten. Das war schon mal anders. Der Beat-Hipster der 50er Jahre adaptiert tatsächlich »die existentielle Lage amerikanischer Schwarzer als Modell für die eigene, selbstgewählte Lebensweise«, wie Diederichsen
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