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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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einen besten Freund, eine Freundin, kein Zeugnis mit ‚mangelhaft’ und eine Menge Pläne für die Ferien.
    „Was genau stellst du dir für ihn vor?“
    Ich hasste es, wenn er in meiner Anwesenheit über mich redete, als stünde ich nicht leibhaftig vor ihm. Aber im Augenblick hätte ich auf die Frage, was ich mir für meine   Ferien vorstellte, ohnehin keine gute Antwort präsentieren können. Also schwieg ich weiter. Vaters Ton war noch immer ganz Geschäftsmann, aber Mutter ließ sich nicht von ihm einschüchtern, auch wenn sie stets gut abwog, in welchen Augenblicken sie ihm entgegentrat. Sie war beinahe die einzige Frau, die das konnte, und sie tat es meistens, wenn es um mich ging.
    Doch das war in letzter Zeit immer seltener geschehen. Irgendwie schien sie immer öfter von mir zu erwarten, dass ich meine Kämpfe nun selbst mit Vater ausfocht, mich gegen ihn behauptete, die Territorien neu bestimmte, meine eigenen Grenzen fand und setzte. Aber ich war noch nicht so weit. Bei mir war alles durcheinandergeraten, ich wusste selbst nicht, wo ich eigentlich stand, und das schien sie gespürt zu haben. Deshalb stellte sie sich jetzt noch einmal vor mich und bot ihm statt meiner die Stirn. Sie konnte das – sie und ihre Schwester Melanie.
    Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schlug Mutter vor: „Ich denke, es wäre gut, wenn Jann zu Melanie fährt, für zwei Wochen vielleicht, oder wie lange er sonst möchte. Christoph ist wohl über den Sommer auch da.“ Sie war aufgestanden, neben mich getreten und hatte den Arm um meine Schulter gelegt. Für Vater das eindeutige Signal, dass er hier keine Chance haben würde. In Momenten wie diesen würde sie sich für mich wie eine Löwin mit ihm raufen.
    Er sah mich an, kurz und durchdringend, und sagte dann: „Okay, die Ferien gehören dir.“ Dann verließ er das Zimmer, nicht ohne seiner Frau im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn zu geben – sein Kompliment an ihre Stärke und ihren Mut.
     
    Zwei Tage später saß ich im Zug auf dem Weg nach München, wo Tante Melanie mich abholen würde. Vielleicht würde auch mein Cousin Christoph mitkommen. Im Gegensatz zu mir hatte er immerhin schon den Führerschein, weil er achtzehn – ach nein, schon zwanzig war. Er studierte in München an der Technischen Universität, und soweit ich wusste, verbrachte er noch zwei Monate bei seiner Mutter, bevor er für ein halbes Jahr nach Kanada fliegen würde, um dort ein Auslandssemester zu absolvieren. Obwohl meine Mutter mit ihrer Schwester regelmäßig telefonierte, hatte ich zu meinem Cousin keinen intensiven Kontakt. Als Kinder hatten wir uns hin und wieder einmal gesehen, zu Weihnachten oder zu Geburtstagen. Aber mit der Zeit waren die Besuche immer seltener geworden und schließlich ganz abgebrochen, als er in die Pubertät und damit in einen Lebensabschnitt gekommen war, in dem man begann, sich eher für gleichaltrige Mädchen zu interessieren anstatt für vier Jahre jüngere Jungs. Das letzte Mal hatte ich ihn zu seiner Abiturabschlussfeier  vor zwei Jahren gesehen.
    Damals war er mir unheimlich erwachsen und männlich vorgekommen, in seinem eleganten, dunklen Anzug, dem dezenten Schlips und seinen schulterlangen, gepflegten Haaren, die er sorgfältig zu einem Pferdeschwanz zusammen-gebunden hatte. Mein Vater hatte die Haare anstößig und unerhört gefunden, aber Mutter und Tante Melanie hatten sich während seiner verhaltenen Schimpftirade nur verschwöre-risch zugezwinkert und Vaters Gebrummel einfach ignoriert. Gegen die beiden hatte er einfach keine Chance.
    An Christophs Wesen konnte ich mich seltsamerweise fast gar nicht erinnern. Wir hatten damals kaum miteinander gesprochen, vielleicht hatte er mich auch gar nicht richtig wahrgenommen. Er hatte damals eine Freundin, die den ganzen Nachmittag über seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte – wobei da irgendetwas nicht zu passen schien zwischen den beiden. Seltsam, dass mir das jetzt einfiel.
    Ich wusste nur noch, dass da etwas Besonderes an ihm gewesen war, anziehend, aufregend und verwirrend. Was es war, war mir entfallen, ich hatte nur noch so eine vage Ahnung ... Wie sah er jetzt wohl aus? Bei diesem Gedanken machte mein Herz einen erwartungsvollen Hüpfer – oder war es die Lautsprecheransage, die mich erschreckt hatte? Ich musste umsteigen und hatte erst einmal keine Zeit für weitere Grübeleien.
     
    Endlich saß ich im ICE, fast allein in einem der letzten Abteile. Nur noch ein Mann saß in der Ecke neben
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