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Wolfgang Hohlbein -

Wolfgang Hohlbein -

Titel: Wolfgang Hohlbein -
Autoren: Der Inquisito
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von der Stadt entfernt war und die Straße einen großen Bogen zur Brücke hin schlug, ging er quer über das abgeerntete Weizenfeld zum Fluß hinunter, um zu trinken - und sich zu säubern, denn die dreitägige Reise hatte Spuren auf seiner Kleidung und seinem Gesicht hinterlassen. Er wollte sauber sein, wenn er Buchenfeld betrat. Schließlich war er kein Bettelmönch.
    Der Fluß war nicht sehr tief. Tobias konnte bis auf den Grund sehen, und es gab so gut wie keine Strömung, so daß er sogar darauf verzichtete, den Umweg über die Brücke zu nehmen, sondern einfach hindurchwatete.
    Tobias legte den Stab und den Beutel mit seinen Habseligkeiten zu Boden, schlüpfte aus seinen Sandalen und watete in den Fluß hinaus. Das Wasser war kälter, als er erwartet hatte; im ersten Moment mußte er die Zähne zusammenbei-
    ßen, und auch die Strömung war viel stärker, als es den 13
    Anschein gehabt hatte. Aber es war eine helle, wohltuende Kälte, die auch den letzten Rest von Müdigkeit und selbst die Erschöpfung der Reise vertrieb. Nach ein paar Augenblicken genoß er das Gefühl, mit dem die eisige Kälte an seinem Körper emporkroch. Schließlich tauchte er ganz in den Fluß.
    Er blieb so lange unter Wasser, bis seine Lungen zu platzen schienen, dann stand er mit einem Ruck auf, atmete keuchend ein paarmal ein und aus und schlüpfte schließlich aus seiner Kutte.
    Als er auch das Untergewand über den Kopf streifte, glaubte er eine Bewegung auf der Brücke wahrzunehmen.
    Erschrocken hielt er inne und spähte aus mißtrauisch zusam-mengepreßten Augen zu dem grauen Bauwerk hinüber.
    Aber da war nichts. Er mußte sich getäuscht haben.
    Sorgsam tauchte er das Gewand drei-, viermal ganz unter, bis sich der grobe Stoff ganz mit Wasser vollgesogen hatte, schwenkte es ein paarmal hin und her und warf es dann zurück ans Ufer. Dann ging er ein zweites Mal in die Knie, um sich das Wasser mit beiden Händen ins Gesicht zu schöpfen und sich zu waschen. Erst danach stillte er seinen Durst.
    Das Wasser war herrlich. Es war klar und eiskalt, und es spülte nicht nur den Nachgeschmack des schlechten Weins aus seinem Mund, den ihm der Köhler am vergangenen
    Abend vorgesetzt hatte - und der für diesen guten Mann sicher eine Kostbarkeit gewesen war -, sondern auch die schlechten Gedanken aus seinem Kopf. Es schmeckte so köstlich, daß er mit tiefen, gierigen Zügen trank und schließlich die Augen schloß, um die letzten Schlucke zu genießen.
    Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in das Gesicht eines toten Kindes.
    Der Fluß hatte es herangetragen, sein Körper hatte sich an einem Stein verfangen. Das tote Kind wandte ihm das Gesicht zu, als wolle es ihn ansehen. Seine Ärmchen bewegten sich mit der Strömung und winkten ihm zu.
    Tobias schrie auf und verlor auf dem schlammigen Fluß-
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    grund den Halt. Für einen Moment geriet er unter Wasser, sprang aber sofort wieder empor und versuchte, das nahe Ufer zu erreichen. Da er Wasser geschluckt hatte, begann er zu würgen. Er hustete, während er mit entsetzten, fahrigen Bewegungen aus dem Wasser watete. Dann kroch er ein Stück die Uferböschung hinauf, ehe er endlich wieder zu Atem kam.
    Er hatte zwar aufgehört zu schreien, aber dennoch war er entsetzt wie noch nie in seinem Leben. Das tote Kind dort im Wasser winkte ihm zu, es hatte ihn berührt. Seine Finger hatten seine Wange gestreift, und es war mehr als die Berührung toten Fleisches gewesen. Es war ihm gefolgt, nicht wirklich ein Kind, sondern ein Ding, das aus dem schwarzen Kreis toter Erde im Wald herausgekrochen war und . . .
    Tobias stöhnte. Mit aller Gewalt zwang er sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er wußte einfach, daß er den Verstand verlieren würde, wenn er es tat. Wenn er nicht irgend etwas tat, um sich selbst zu beweisen, daß dieses Kind nicht aus der Hölle geschickt worden war, um ihn zu holen.
    Zitternd richtete er sich auf, sah sich hastig nach allen Seiten um und kroch dann auf Händen und Knien wieder zum Wasser zurück. Das tote Kind war noch immer da, denn sein Fuß hatte sich unter dem Stein verfangen, und seine kleinen Ärmchen bewegten sich noch immer in der Strömung. Es winkte ihm zu. Komm her. Ich bin dein. Ich gehöre dir. Und du mir.
    Tobias schloß mit einem Stöhnen die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und preßte die Kiefer so fest aufeinander, daß es weh tat. Heiliger Dominikus, das ist nur ein totes Kind! dachte er. Sonst nichts! Vielleicht ein Unfall,
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