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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du?
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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ihn nur auf einem Gang irgendwo vorbeigehen sah.
    Andererseits denke ich auch an den Deutschlehrer, mit dem wir über Böll und Grass diskutierten, oder den Studienrat in, wie es damals hieß, »Gemeinschaftskunde«, der sich geduldig in jeder Stunde meine scharfe Kritik an seinem Unterricht anhörte und dessen Wortgefechte mit mir dem ganzen Rest der Klasse zur Unterhaltung dienten.
    Ich fand so meine Rolle unter den Mitschülern: als jener allseits respektierte, andererseits auch belächeltePolitfreak, der schon mit 15 den Spiegel las und die Zeit, in den rororo-Bänden das Grundsatzprogramm der Jungsozialisten studierte und sich mit dem Buch Sprache und soziale Herkunft des Soziolinguisten Ulrich Oevermann herumschlug – während die anderen Jungs in der Klasse sich keinen Deut darum scherten und lieber ihren Spaß mit den Mädchen hatten.
    Verführerisch war für uns natürlich die neue Generation von Lehrern, deren Vorboten die Referendare waren. Sie sahen aus wie wir, nur dass sie etwas älter waren, sie luden uns zu den »Feten« ein, die sie bei sich zu Hause veranstalteten, entpuppten sich aber doch ziemlich schnell als Enttäuschung. Denn von einem Lehrer, der einem so sehr ähnelt, kann man eben nicht besonders viel für sein eigenes Leben lernen. Sie hatten etwas anbiedernd Unerwachsenes. Es war furchtbar, den Gemeinschaftskunde-Referendar dabei zu beobachten, wie er sich in unserer Gegenwart eine Selbstgedrehte ansteckte, in der – auch für Nichtraucher schnell zu begreifen – Gras war. Noch verheerender war der Studienrat, der mit dem schönsten Mädchen meiner Jahrgangsstufe knutschte.
    Erst recht irritierte diese Verschiebung der Lebensphasen, wenn man sie an den eigenen Eltern beobachten konnte. Mein Vater wäre in den Siebzigerjahren eigentlich ein Grund dafür gewesen, sich sofort mindestens der Schülerunion, besser noch einer schlagenden Verbindung oder einer Organisation katholischer Fundamentalisten anzuschließen. Seine Familie hatteihn in ihrer wirtschaftlich besten Zeit in ein Schweizer Internat geschickt, als Teenager trug er maßgeschneiderte Hemden mit Initial, und zu Hause in Rimini leistete man sich zeitweilig eine Lehrerin, die mit ihm nur Französisch sprach. In den Siebzigern führte er plötzlich das Leben eines Bohemiens, in dem für Kinder kaum Platz war. Dafür stand in seinem römischen Dachgarten eine groß gewachsene und gut gepflegte Marihuana-Pflanze.
    Aber als ich kürzlich mit einem Mitabiturienten über unsere Schulzeit sprach, sagte er, im Grunde gebe es nur wenige Schulstunden, die ihm bis heute im Gedächtnis geblieben seien, und das seien jene Stunden gewesen, die drei oder vier junge Referendare über den Spanischen Bürgerkrieg hielten. Sie taten das fächerübergreifend, behandelten das Thema also gleichzeitig in Musik, Kunst, Deutsch und Geschichte, behandelten hier die Lieder von Ernst Busch, da Picassos Guernica, dort Texte von Ernst Kantorowicz oder Ernest Hemingway, schließlich die Rolle der Legion Condor. Und wir waren begeistert von der Begeisterung dieser jungen Leute, die einmal alles anders machten, als wir es kannten. Und die das mit Freude taten, nicht mit der Routine alter Männer.
    Den Tipp meines Lebens verdanke ich einem besonders alternativen Lehrer: Er unterrichtete Mathematik, trug einen blonden Zottelbart, fuhr VW-Bus und hatte das Ziel, auf einer griechischen Insel auszusteigen– was er später auch tat. Als wir kurz vor dem Abitur ein zweiwöchiges Berufspraktikum absolvieren mussten und ich mich wieder mal um nichts gekümmert hatte, kam er auf mich zu und sagte: »Es ist noch ein Platz bei der Hannoverschen Neuen Presse frei. Ich glaube, das ist genau das Richtige für dich.«
    Ansonsten warteten auf uns in der Schule gut geschulte und organisierte ältere Jahrgänge, die Schülergruppen gegründet hatten. Es war das Strandgut von Achtundsechzig, das an Schulen und in Schülerräten schon Anfang der Siebzigerjahre angeschwemmt wurde: Es gab die SPD-nahen Falken, die Genossen der DKP-Jugendorganisation SDAJ, den Kommunistischen Bund Westdeutschland KBW, die Besucher eines unabhängigen Jugendzentrums in der Nordstadt, gespalten in Anarchisten (schwarze Halstücher) und Anarcho-Syndikalisten (schwarz-rote Halstücher) und viele andere. Sie waren aktiv im Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen der städtischen Verkehrsbetriebe, sogar gegen die Verteuerung der Eintrittsgebühren in den städtischen Schwimmbädern.
    Ich machte einige Jahre
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