Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du?
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
Vom Netzwerk:
Glasauge füllte die rote, offene Höhle, in der sich einmal sein richtiges Auge befunden hatte, es war kaum von einem echten Auge zu unterscheiden. Aber abends, wenn mein Vater schlafen ging, nahm er das Glasauge heraus und legte es im Badezimmer in eine Schale mit Borwasser. Und wenn ich nachts noch einmal ins Bad ging, traf mich der Blick dieses toten Auges, ich konnte ihm nicht entgehen, es war nicht einmal unheimlich.
    Er war mir ganz selbstverständlich, dieser Blick aus der Borwasserschale, meine ganze Kindheit lang.
    Auch konnte mein Vater das Lid über dem Glasauge nicht schließen. Oft, wenn es Sonntag war, schlief er nachmittags im Wohnzimmersessel ein. Er schloss dann das gesunde Auge, aber das Glasauge blieb offen, esstarrte mich aus dem schlafenden Vatergesicht heraus an, wenn ich das Wohnzimmer betrat, und obwohl ich das so viele Jahre lang immer wieder sah, war es, als würde mich der Vater, selbst wenn er schlief, nicht aus dem Auge lassen. Und als träfe mich, mitten aus dem Gesicht meines Vaters heraus, ein Blick aus einer fremden, kalten, toten Welt.
    Ich kannte meinen Vater als einen, der bisweilen über seine physischen Verletzungen klagte, der aber über sein Inneres nie redete.
    Immer wieder, wenn seine Freunde zu Besuch kamen, wenn jene da waren, die ihn vor dem Krieg gekannt hatten, wenn sich die Wohnzimmertür für uns Kinder schloss und dann bis in die Nacht hinein überbordendes Gelächter nach außen drang, bekam ich eine Ahnung davon, dass mein Vater ein Mensch war, den ich nie wirklich kennen würde.
    Ich wuchs damals in einer Straße auf, in der die meisten Männer in irgendeiner Weise kriegsverletzt waren. Allein drei Blinde lebten hier, einer wurde morgens von seinem Sohn zum Bus geführt und zur Arbeit gebracht. Ein anderer Mann hatte eine tiefe Beule im kahlen Schädel, ein weiterer besaß nur einen Arm, einem Dritten fehlte das Bein, meinem Vater eben ein Auge.
    Aber diese physischen Verletzungen waren, so seltsam das klingen mag, nicht einmal das Schlimmste, jedenfalls nicht für uns, die Kinder. Furchtbarer war das ewige Schweigenvieler dieser Männer, das sich am absurdesten bei jenem Vater äußerte, der in seinem Haus ein Zimmer mit einer Funkstation einrichtete, von dem aus er mit Hobbyfunkern auf dem ganzen Globus in Verbindung trat – nur mit seiner eigenen Familie wechselte er an manchen Tagen kaum ein Wort. Stattdessen kaufte er bisweilen säckeweise Reis, weil er den nächsten Krieg und eine damit verbundene Hungersnot fürchtete.
    Erst spät verstand ich, dass diese Männer nicht nur äußerlich krank, ja, innerlich oft nahezu tot waren nach sieben Jahren Krieg. Liest man nicht heute, dass Soldaten, die in Afghanistan waren, sich traumatisiert in die Behandlung geschulter Psychologen begeben müssen? Wer hätte je dringender einer solchen Behandlung bedurft als unsere Väter?
    Ich provozierte, seit ich etwa fünfzehn geworden war, meinen Vater Tag für Tag. Ich trug die Haare lang, ich stand spät auf, ich wurde von einem Jahr aufs andere vom Klassenbesten zu einem Versetzungsgefährdeten – und ich tat das alles nicht, weil ich ihn hasste, sondern weil ich irgendeine Reaktion von ihm verlangte. Weil ich wollte, dass er mich sah.
    Und weil ich nicht wollte, dass er schwieg.
    Aber es gab ein Thema, bei dem mein Vater stets quicklebendig wurde: die Politik. Er interessierte sich sehr dafür, las jeden Tag gründlich die Zeitung, dazu wöchentlich ausführlich die Zeit und den Spiegel, und nachdem wir endlich nach vielen Jahren einen Fernseher gekauft hatten, saß er jeden Sonntagmorgen um zwölfvor dem Apparat, um den Internationalen Frühschoppen zu sehen, eine Sendung, in der ein Moderator namens Werner Höfer mit fünf Gästen, Journalisten aus verschiedenen Ländern, Weltprobleme aller Art debattierte. Selten habe ich meinen Vater leidenschaftlicher begeistert gesehen als bei dieser Sendung, in der stets heftig gestritten wurde, sei es über das Palästina-Problem, sei es über die Ostverträge. Noch beim Mittagessen berichtete er uns mäßig interessierten Kindern und seiner diesen Fragen nur am Rande zugänglichen Frau, worum es in der Sendung gegangen war und wer welche Positionen in welcher Art vertreten hatte.
    Warum war er so? Warum erreichte auch die Cholerik des Großvaters ihren Höhepunkt, wenn es um Politik ging? Warum war überhaupt in jenen Jahren mein Bild von der Politik bestimmt von laut streitenden, schreienden Männern, die Wehner hießen oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher